Unheil - Warum jeder zum Moerder werden kann Neue Faelle des legendaeren Mordermittlers
stockdunklen Wald alleine spazieren? Und warum gerade hier? Erste Liebe? Flirt? Romantik? Erster Kuss? Enttäuschung? Eskalation? Entführung? Vergewaltigung? Alles war möglich.
Bei dieser Örtlichkeit im Lochhamer Schlag, einem Waldgebiet im Westen von München, handelte es sich um einen idyllischen Platz mit einer Som mereisstockbahn, gemütlichen Bänken, Tischen und einem kleinen Spielplatz. Dieser Platz diente als Treffpunkt für die verschiedensten Gruppen, tagsüber überwiegend für ältere Menschen, vor allem für begeisterte Eisstockschützen, und zu späterer Stunde eher für junge Leute. Diese Einschätzung lag schon deshalb nahe, weil bei genauerem Absuchen der Örtlichkeit verschiedene Utensilien und Spuren gefunden wurden, die darauf hindeuteten, dass hier neben Hasch vermutlich auch andere Drogen konsumiert wurden.
Der Erkennungsdienst würde Stunden an diesem Tatort beschäftigt sein, doch so lange wollten wir nicht warten, da die ersten Stunden oder Tage nach einer Tat die wichtigsten sind. Zeugen, Beteiligte und Betroffene stehen dann noch unter der Einwirkung des Ereignisses und neigen eher zu Offenheit und Ehrlichkeit als Tage oder Wochen später. Vor allem Täter sind einem enormen Druck ausgesetzt. Je mehr Zeit verstreicht, desto mehr baut sich dieser für uns Ermittler spürbare und deshalb äußerst wertvolle Druck ab. So ist eigentlich immer Eile geboten, wenn ein Verbrechen entdeckt wird, diese Ermittlungsphase ist unsagbar wichtig.
Wer also war unser Opfer? Waren erst einmal ihre Personalien bekannt, wäre das ein enormer Zeitgewinn. Eine Vermisstenmeldung lag zunächst nicht vor. Das Mädchen musste diesen Platz im Lochhamer Schlag gekannt haben, Ortsfremde hätten ihn nicht gefunden.
»Ein so junges Mädchen geht doch sicher gerne in Diskotheken, oder?«, fragte ich in die Runde, und die Umstehenden nickten zustimmend. »Soweit ich weiß, müssen sich junge Gäste gelegentlich am Einlass ausweisen, ob sie schon 16 Jahre alt sind«, fuhr ich fort, und wiederum nickten alle. »Wenn ich so jung aussehen würde, hätte ich immer einen Ausweis dabei, um beweisen zu können, dass ich schon alt genug bin«, schloss ich meine Überlegungen, und alle wussten, worauf ich hinauswollte. Der Erkennungsdienstbeamte zog sich Latexhandschuhe über, beugte sich vorsichtig über die Leiche, griff in die hintere rechte Gesäßtasche der Jeans und hielt plötzlich einen Personalausweis in der Hand, ausgestellt auf Nicole B., geboren 1984 in München. Sie wohnte ganz in der Nähe.
Jetzt ging es Schlag auf Schlag. Manchmal entwickeln die Dinge eine Dynamik, die dann zum Selbstläufer wird. Zunächst aber stand uns das Schwerste bevor, nämlich die Unterrichtung der Angehörigen. Es ist die belastendste Aufgabe, die man als Polizist bewältigen muss, und nichts ist mehr gefürchtet im Kollegenkreis. Als Überbringer schlimmer Nachrichten fühlt man sich selbst irgendwie schuldig, da man in diesem Augenblick den Angehörigen wehtun muss. Es kann passieren, dass sie in der ersten Verzweiflung sogar Aggressionen entwickeln, die sich gegen den oder die Überbringer richten. Man überlässt diese schwierige Aufgabe deshalb nach Möglichkeit älteren, erfahrenen Kolleginnen oder Kollegen, und Gott sei Dank helfen mittlerweile die Kriseninterventionsteams ( KIT ) der Rettungsdienste, der psychologische Dienst der Polizei oder die Geistlichen bei dieser Aufgabe.
Im vorliegenden Fall benötigten wir keine Unterstützung. Die Mutter des Mädchens brach nicht weinend zusammen, als mein Kollege und ich ihr schonend den Tod ihrer Tochter beizubringen versuchten. Die verhärmt wirkende Frau hatte ihr einziges Kind offenbar noch gar nicht vermisst.
Am Küchentisch sitzend, eine große Tasse Kaffee vor sich und eine Zigarette rauchend, nahm sie die Nachricht mit folgendem Kommentar entgegen:
»Das hat ja mal so kommen müssen. Ich hab ihr immer gesagt, sie soll sich nicht so aufführen, sonst wird sie irgendwann erschlagen. Manchmal war sie schon ein arges Miststück.«
Keine Träne kullerte über die Wangen der Frau, die arbeitsunfähig war, von Sozialhilfe lebte und zumindest nach außen hin keine Trauer zu empfin den schien. Gefühle können also auch sterben oder sich ins Gegenteil verkehren, dachte ich. Als wir über die Kontakte ihrer Tochter sprachen, erfuhren wir, dass diese jede Nacht einen anderen Jungen aus ihrer Clique mit nach Hause brachte, der dann bei ihr im Zimmer schlief.
Viel konnte uns die
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