Unheil - Warum jeder zum Moerder werden kann Neue Faelle des legendaeren Mordermittlers
begann Melanie sofort zu weinen.
»O Gott«, rief sie, »hat Dennis etwas damit zu tun?«
»Nein, nein«, beruhigte ich sie, »wir sind hier, weil wir hoffen, dass er uns weiterhelfen kann.«
Mir war bewusst, dass ich log, aber es gibt schließ lich auch barmherzige Lügen. Zumindest hoffte ich, dass es eine bleiben würde, denn Mutter und Tochter machten einen so positiven Eindruck auf mich. Obwohl Ermittler einen gewissen Jagdinstinkt entwickeln und die Aufklärung beziehungsweise den Erfolg suchen, hätte ich mir in diesem Fall wirklich gewünscht, wir wären auf einer falschen Spur.
Dennis A. lag noch im Bett, als wir sein Zimmer im Obergeschoss betraten. Ob er wirklich geschlafen hatte, als wir an ihm rüttelten, war schwer erkennbar. Er sah nicht verschlafen, sondern eher verweint aus. Als wir uns als Kriminalbeamte auswiesen und ihn aufforderten aufzustehen, fragte er nicht nach dem Warum. Aha, dachte ich, abweichendes Verhalten – und zwar abweichend vom Verhalten eines Unschuldigen. Der würde zuerst fragen, was los sei, was man von ihm wolle, und nicht wie Dennis kreidebleich und mit der blanken Angst im Gesicht aus dem Bett springen. Wobei mir sofort der Verband an seiner linken Hand auffiel.
»Kennen Sie Nicole B.?«, fragte ich und schaute ihm direkt in die Augen. Dabei stand ich ganz dicht vor ihm. Er war einen halben Kopf kleiner als ich, also etwa 1,75 Meter groß.
»Sie können ruhig du zu mir sagen«, antwortete er, wich aber meinem Blick aus und wollte mich nicht ansehen. Er war so nervös, dass der Stoff seines Schlafanzugs an den Beinen zu flattern begann, weil ihm die Knie so zitterten. Jetzt war ich mir fast schon sicher, dass wir bei ihm an der richtigen Adresse waren, doch wie sich die Situation weiterentwickeln würde, konnte ich nicht ahnen. Würde er hartnäckig schweigen und alles bestreiten oder sich sofort öffnen? Das ist für uns Ermittler die alles entschei dende Frage in der Anfangsphase einer Vernehmung.
»Danke. Also noch mal: Kennst du Nicole B.?«, wiederholte ich.
»Ja, sie ist eine Freundin, wir sind in derselben Clique.«
»Wann hast du sie zuletzt gesehen?«
»Gestern Abend.«
»Wo und wann genau?«
»Äh, das war nach der Disco. Wir waren in einer Disco in Fürstenfeldbruck. Alle zusammen. Gegen zwei Uhr bin ich heimgefahren, weil ich so müde war. Die Nicole ist mitgefahren, ich hab sie kurz danach vor ihrer Haustür abgesetzt. Mehr weiß ich nicht.«
Die Zeiten stimmten nicht mit der Aussage von Nicoles Mutter überein.
»Warst du mit Nicole alleine unterwegs, oder war noch jemand dabei? Falls ja, wer?«
»Nein, wir waren alleine. Die anderen aus unserer Clique sind in der Disco geblieben.«
»Aha, gab es außer Nicole noch andere Mädchen in eurer Clique?«
»Nein, in der Clique nicht. Da war Nicole das einzige Mädchen.«
»Und außerhalb der Clique? Hast du eine Freundin?«
»Ja«, sagte er, wenngleich sehr zögerlich. Offensichtlich wollte er sie verschweigen oder raushalten. Da wir bereits wussten, dass Nicole ein junges Mädchen mit nach Hause gebracht hatte, könnte es sich bei ihr um diese Freundin gehandelt haben. Jedenfalls war uns außer Nicole und ihr keine andere weibliche Person bekannt.
»Sie heißt Andrea«, fügte er hinzu.
»Und, war Andrea nicht dabei? Ist sie verreist oder krank, dass du ohne sie in die Disco gehst? Oder habt ihr Zoff? Du weißt, wir werden sie befragen. Wo wohnt denn deine Freundin?«
Noch bevor er antworten konnte, stand plötzlich mein Kollege neben mir, der sich im Zimmer etwas umgesehen hatte. Er hielt ein Paar helle Turnschuhe in der Hand.
»Das ist Blut, wenn ich mich nicht täusche. Ganz frisch«, meinte er lapidar. Ich schaute kurz auf die hellgrauen Schuhe und dann ins Gesicht des Jungen.
»Und wenn wir den Verband an deiner Hand entfernen, werden wir eine frische Wunde vorfinden, stimmt’s?«, fragte ich in ruhigem, unaufgeregtem Ton.
Der Junge begann hemmungslos zu weinen, fiel auf die Knie und umklammerte meine Beine, sodass ich schon fürchtete, er könnte mich zu Fall bringen. Es dauerte einige Minuten, bis er sich so weit beruhigte, dass wir ihn zumindest wieder aufrichten konnten. Kein falsches Wort, keine Vorhaltungen, keine Vorwürfe durften jetzt verhindern, dass er sich uns öffnete. Empathie, Verständnis und viel Einfühlungsvermögen waren stattdessen gefordert. Eigentlich hätte ich ihn sofort als Beschuldigten belehren müssen, aber das hätte alles zerstört. Nicht immer lassen sich
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