Unheil - Warum jeder zum Moerder werden kann Neue Faelle des legendaeren Mordermittlers
die rechtlichen Vorgaben auf das wirkliche Leben übertragen. Ihn jetzt auf seine Rechte hinzuweisen hätte diesen entschei denden Augenblick unterbrochen und eine Rück kehr in diese erste Phase der Öffnung wäre vielleicht für immer verbaut gewesen.
»Was ist da passiert, Dennis? Ich denke, es ist besser, wenn du die Wahrheit sagst, oder?«
Er schaute mich mit rot unterlaufenen Augen an, das Gesicht unschön verzogen, und begann erneut hemmungslos zu schluchzen:
»Sie war so gemein. Ich hab es nicht mehr ausgehalten und sie totgemacht.«
Mutter und Schwester kamen nach oben, sahen den Jungen weinend am Boden kauern und wussten sofort Bescheid. Ich spürte, dass diese kleine Familie just in diesem Augenblick auseinanderbrach. Nichts mehr würde für diese Menschen so sein wie vorher. Es waren drama tische Szenen, die sich nun vor unseren Augen abspielten, sodass wir Mühe hatten, die drei voneinander zu trennen. Sie umarmten und umklammerten sich – es war ergrei fend. Jedenfalls musste ich mich gewaltig zusammenreißen, um nicht feuchte Augen zu bekommen. Wir riefen das Kriseninterventionsteam, weil man Menschen in einer solchen Lage nicht alleine zurücklassen darf. Vor allem die Schwester des Jungen schien unendlich zu leiden.
»Dennis, ich muss dich leider festnehmen«, sagte ich schließlich zu ihm, als die Helfer eingetroffen waren und sich die Situation etwas entspannte. Ich klärte ihn über seine Rechte auf und fragte ihn ausdrücklich, ob er dieses Anfangsgeständnis wirklich aufrechterhalten oder es zurücknehmen wolle, was sein gutes Recht sei, da ich ihn eigentlich schon hätte belehren müssen, bevor er die Tat gestand.
Wir führten Dennis so hinaus, dass ihn die inzwischen in der Küche sitzenden Angehörigen nicht sehen konnten. Draußen wartete ein Streifenwagen auf ihn mit dem Auftrag, zwei Blutentnahmen durchführen zu lassen. Die körperliche Untersuchung und insbesondere die Beurteilung der Verletzung an der Hand würden wir selbst veranlassen. Die Kollegen fuhren den Jungen also erst ins Institut für Rechtsmedizin, dann zur Mordkommission. Der Erkennungsdienst rückte an, sicherte Spuren im Zimmer des Beschuldigten, stellte dessen Bekleidung sicher. Dann machten auch wir uns auf den Weg zur Dienststelle, wobei uns während der Fahrt dorthin viele Gedanken durch den Kopf gingen. Vordergründig sah es nach einer Auseinandersetzung zwischen einer Jugendlichen und einem Heranwachsenden aus, möglicherweise aus einem der vielen profanen Gründe, die in solchen Cliquen täglich vorkommen. Irgendwie schien das aber in diesem Falle nicht zu passen. Überwiegend aufgrund des Eindrucks, den Dennis’ Familie bei mir hinterlassen hatte, ahnte ich, dass dieser Tat kein Allerweltsmotiv wie Eifersucht, Streit oder Habgier zugrunde lag.
In den folgenden Stunden wurden mehrere Mitglieder der Clique befragt, doch die Vernehmung des Be schuldigten stand im Mittelpunkt. Schließlich konn te nur er sagen, was in seinem Innersten vor sich ging. So kam die Wahrheit nach und nach ans Licht, wobei den größten Beitrag Andrea, die Freun din des Täters, leistete – um sie ging es nämlich letztendlich.
Die kleine hübsche Nicole hatte es tatsächlich geschafft, eine Clique um sich herum zu versammeln, die ausschließlich aus Jungs bestand. Mädchen duldete sie nicht, wollte konkurrenzlos bleiben. Der jüngste Bursche der Clique war 14 Jahre, beim ältesten Mitglied handelte es sich um den 19 -jährigen Dennis A.
Obwohl Nicole rein körperlich jedem normalen Jungen unterlegen war, regierte sie über »ihre« Männer, übte Kontrolle aus. Später habe ich mich gefragt, wie dieses blutjunge Mädchen dieses ausgeprägte Selbst- und Machtbewusstsein entwickeln konnte. Auch in der Schule galt sie als dominant und durchsetzungsfähig. Obwohl hochbegabt, konn te sie mit ihren schulischen Leistungen, die allenfalls Mittelmaß waren, nicht glänzen, zeigte einfach kein Interesse am Unterricht. Dennoch wurde sie von allen Mitschülerinnen und Mitschülern respektiert. Vielleicht lag es an ihrem hübschen Gesicht, vielleicht auch daran, dass sie absolut furchtlos war. Jedenfalls galt sie als mutiges Mädchen, das sich vor nichts und niemandem zu fürchten schien – besonders nicht vor ihrer alleinerziehenden Mutter, zu der sie ohnehin kein sehr enges Verhältnis hatte und die sie ebenso dominierte wie alle anderen Menschen in ihrem Umfeld. Nicole gab auch zu Hause den Ton an, kam und ging, wann sie wollte, und das
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