Unheil
und nun löste sich endlich ihre Erstarrung, und sie begann zu schreien.
4
»Hallo, John.« John Holman blickte zu dem Mädchen auf und lächelte. »Hallo, Casey.«
»Wie fühlst du dich?« »Gut.« Er saß auf den Stufen vor dem Krankenhaus, wollte nicht
drinnen warten. Er fand Krankenhäuser deprimierend. Sie setzte sich zu ihm auf die Stufen. »Sie sagten, du würdest mindestens noch ein paar Wochen brauchen.«
»Nein, ich bin jetzt in Ordnung. Noch länger hier, und ich werde wieder verrückt.« Seine Worte machten ihr die Erinnerung an ihren ersten Besuch im Krankenhaus wieder gegenwärtig, und sie verzog schmerzlich das Gesicht. Die Nachricht von dem Erdbeben hatte die benachbarten Dörfer und Städte in Panik, das ganze Land in Bestürzung und die Geologen in Erstaunen versetzt. Sie hatte nicht ein- mal gewußt, daß Holman in dieser Gegend war, denn er sprach nicht viel über seine Arbeit; sie war nicht einmal sicher, in welcher Abteilung des Ministeriums er arbeitete. Sie hatte nur gewußt, daß er über das Wochenende >dienstlich verreisen< müsse, daß er ihr nicht sagen könne, wohin er fahren würde, und daß sie ihn keinesfalls begleiten könne. Sie hatte keine Ahnung, daß er in dem Dorf gewesen war, das vom Erdbeben zerstört wurde. Als sie am folgenden Tag sein Büro angerufen hatte, erklärte man ihr, warum er sich nach seiner Rückkehr nicht melden konnte; und daß er in der Gegend gewesen war. Auch im Ministerium hatte man seither nichts von ihm gehört und angenommen, daß er entweder nicht zurück könne, weil die Straßen um das Kata- strophengebiet von Rettungsdiensten, Sanitätsfahrzeugen und Horden von Schaulustigen hoffnungslos verstopft wären, oder weil er geblieben sei, um zu helfen. Man verriet ihr nichts von der Sorge, daß er vielleicht im militärischen Sperrgebiet gefaßt worden sei und dort festgehalten werde, und daß man jetzt in ängstlicher Erwartung des Verteidigungsministers lebte, der sich jeden Augenblick wie ein ergrimmter Rachegott melden konnte. Sie wurde gebeten, später wieder anzurufen, wenn man vielleicht mehr wisse, und mit dem guten Rat versehen, wegen der verstopften Straße und der geringen Wahrscheinlichkeit, ihn zu finden, von der Fahrt nach Wiltshire abzusehen.
Den Rest des Tages hatte sie in ängstlicher Beklommenheit verbracht. Sie rief ihren Chef an, einen Antiquitätenhändler, der ein exklusives Geschäft in einer der Seitenstraßen der Bond Street betrieb und sagte ihm, sie fühle sich zu krank, um zur Arbeit zu kommen. Er, ein geschäftiger Mann, der Frauen als ein notwendiges Übel zu betrachten schien, antwortete kurz angebunden, er hoffe, sie werde morgen gesund genug sein, ihre Arbeit zu tun. Den Rest des Tages wanderte sie unruhig und nervös in der Wohnung herum und traute sich nicht hinaus, weil während ihrer Abwesenheit jemand anrufen könnte. Sie aß kaum und schaltete das Radio ein, dessen Erdbebenberichterstattung nicht zu ihrer Beruhigung beitragen konnte.
Casey kannte Holman seit bald einem Jahr und wurde sich mehr und mehr bewußt, daß sie verloren sein würde, wenn er sie je verließe. Ihre Abhängigkeit von ihm war inzwischen stärker als die Abhängigkeit von ihrem Vater. Als ihre Eltern vor acht Jahren geschieden wurden, hatte sie sich dem Vater zugewandt, um den Trost und die Anleitung zu finden, die jedes Kind braucht, und er hatte diese Verantwortung mit außergewöhnlichem Geschick übernommen. Tatsächlich hatte er seine Sache zu gut gemacht, denn indem er den Verlust der Mutter überkompensiert hatte, verband ihn mit der Tochter eine besonders innige Beziehung. Holman hatte angefangen, diese Bindung zwischen Vater und Tochter zu lockern, zuerst unbewußt, doch als er erkannte, wie stark die Bindung war, hatte er angefangen, Casey sanft, aber zielbewußt von ihrem Vater fortzuziehen. Er tat dies nicht so sehr aus Liebe zu ihr, sondern weil er sie als Persönlichkeit schätzte. Er wußte, daß sie intelligent war und einen eigenen Willen hatte, aber wenn diese Beziehung zu ihrem Vater sich weiterentwickelte, würde sie niemals imstande sein, ihr eigenes Leben zu führen. Außerdem verursachte ihm die enge Bindung zwischen Vater und Tochter Unbehagen.
Holman hatte versucht, Casey — ihr eigentlicher Name war Christine, aber er hatte den Spitznamen aus Gründen erfunden, die er ihr noch nicht verraten hatte — dahin zu bringen, daß sie bei ihrem Vater ausziehen und eine eigene Wohnung mieten würde. Dazu wäre sie
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