Unheil
schließlich, nach mehreren Versuchen, etwas über John zu erfahren, kam ein erschöpft aussehender Arzt herunter und nahm sie beiseite. Er sagte ihr mit gedämpfter Stimme, daß es besser wäre, wenn sie John Holman nicht sehen würde; er stehe noch unter Schock und habe sich eine Verletzung zugezogen, die, wenn auch nicht allzu ernst, eine Bluttransfusion erforderlich gemacht habe, und daß er außerdem starke Beruhigungsmittel bekommen habe. Da er sah, daß das Mädchen in einem Zustand nervöser Erregung war, vermied er es, die Art von Holmans Erkrankung zu erläutern. Morgen, wenn sie zur Ruhe gekommen sei, würde es noch früh genug sein, ihr auseinanderzusetzen, daß ihr Liebhaber, Freund oder was immer er war, vollkommen verrückt geworden sei, und daß man ihn im Bett habe anschnallen müssen, damit er trotz der starken Dosis Beruhigungsmittel sich selbst und andere nicht verletzen könne. Es war seltsam, wie sehr der Mann darauf versessen war, sich selbst umzubringen. Schon im Krankenwagen hatte man ihn festbinden müssen, und nach seiner Ankunft im Krankenhaus hatte er sich losgerissen, ein Fenster eingeschlagen und versucht, sich einen langen, dolchartigen Glassplitter durch den Hals zu stoßen. Nur dem Ein- greifen des stämmigen Ambulanzfahrers, der im anschließenden Kampf eine gebrochene Kinnlade davongetragen hatte, war es zu danken, daß Holman sich nicht zu tief geschnitten hatte. Der Mann gebärdete sich wie ein Rasender, und zwei Pfleger und ein Arzt waren verletzt worden, bevor es ihnen endlich gelungen war, ihn zu fesseln und ein Beruhigungsmittel zu spritzen. Selbst danach war er unruhig und mußte angeschnallt bleiben. Nein, befand der Arzt, dies war nicht der richtige Zeitpunkt, es ihr zu sagen. Morgen würde sie selbst sehen können.
Casey verbrachte die Nacht in einem Hotel, das überfüllt war mit Journalisten und Leuten, die in der Nähe des zerstörten Dorfes lebten und sicherheitshalber in größerer Entfernung vom Bebenherd die weitere Entwicklung abwarten wollten. Durch aufmerksames Zuhören erfuhr Casey weitere Einzelheiten. Mindestens ein Drittel der vierhundert Dorfbewohner war umgekommen, ungefähr ein weiteres Drittel mit mehr oder minder schweren Verletzungen davongekommen. Viele der alten Häuser, auch solche, die nicht in der Nähe der gewaltigen Erdspalte gestanden hatten, waren eingestürzt und hatten ihre Bewohner unter sich begraben. Die bemerkenswerteste Geschichte war die von dem kleinen Mädchen und dem Mann, die aus der Spalte geborgen worden waren. Man hatte sie lebend im Inneren entdeckt, und ein Polizist hatte sie herausgeholt, das Mädchen bewußtlos, den Mann in einem Zustand nervöser Überreizung, aber nichts- destoweniger lebendig. Erst viel später wurde Casey klar, daß sie von John Holman gesprochen hatten.
Am nächsten Vormittag ging sie wieder zum Krankenhaus und erhielt den Bescheid, daß sie Holman später am Tag werde sehen können, sich aber darauf gefaßt machen müsse, daß er sie nicht erkennen werde. Der Arzt, der am Vorabend mit ihr gesprochen hatte, erläuterte nun, daß Holman nicht mehr der Mann sei, den sie gekannt habe, daß er unkontrollierbar und gemeingefährlich geisteskrank sei. Als das Mädchen zusammenbrach, beeilte er sich, hin- zuzufügen, daß die Erkrankung vorübergehender Natur sein könne und daß mit größerem zeitlichen Abstand von dem traumatischen Erlebnis, das zu seiner geistigen Zerrüttung geführt habe, ein Prozeß allmählicher Selbstheilung einsetzen werde. Sie ging zurück zum Hotel und weinte sich durch den Tag, bis es Zeit war, wieder zum Krankenhaus zu gehen. Man riet ihr von dem Besuch ab, aber sie bestand darauf — und dann bedauerte sie es.
Der Arzt hatte recht — er war nicht der Mann, den sie kannte und liebte. Er war ein Tier. Ein schäumendes, mit den Augen rollendes, tobendes Tier. Breite Ledergurte fesselten ihn auf sein Bett, das in einem besonderen Zimmer ohne sonstiges Mobiliar stand; es gab keine Fenster, und die Wände waren mit einem weichen, kunststoffartigen Material gepolstert. Er konnte nur den Kopf, die Hände und Füße bewegen, und dies tat er mit einer beängstigend heftigen Motorik. Sein Kopf schlug ständig von einer Seite zur anderen, obwohl der Hals dick bandagiert war. In seinem Mund stak ein dickes Polster, um zu verhüten, daß er sich selbst die Zunge abbiß. Die Hände öffneten und schlossen sich, die Füße wurden krampfhaft hin und her bewegt, aber das Schlimmste waren
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