Unheil
Rechten zu sehen. Halb zornig, halb beunruhigt, war sie barfuß aus der Wohnung zum Treppenhausfenster gelaufen; doch was sie dort sah, kaum daß sie angelangt war, verschlug ihr die Sprache.
Eine Gestalt kam gerade aus dem Taubenschlag auf dem Dach des Anbaus, eine Gestalt, die im trügerischen Mondlicht kaum menschlich schien. Sie bewegte sich gebeugt und mit kurzen, taumelnden Schritten und war umringt von wild flatternden Vögeln. Lena stockte der Atem, als sie begriff, daß es ihr Mann war, der von den Tauben angegriffen wurde, die er liebte. Sie stand mit offenem Mund, außerstande, sich zu bewegen oder ihm zu helfen. Mit seinem nächsten Schrei war der Bann gebrochen, und sie mühte sich durch das Fenster, behindert durch ihren schweren Körper. Als sie halb durch war, die Hände auf dem Dach, das voluminöse Hinterteil hoch in der Luft auf dem Fensterbrett, blickte sie auf und sah ihren Mann auf die Dachkante zustolpern. Sie wollte ihn beim Namen rufen, brachte aber keinen Laut hervor. Ihre Lippen öffneten und schlossen sich zweimal stumm, und erst als er ins Leere trat, fand sie die Stimme wieder.
»Herby!« kreischte sie, und der Schrei überdeckte den dumpf klatschenden Aufschlag seines Körpers auf dem Beton des Hofes zehn Meter tiefer.
Schluchzend und seinen Namen rufend, kroch sie zur Dachrinne und spähte in die Dunkelheit des Hofes hinab. Sein Körper war kaum auszumachen, ein dunkler Umriß, der völlig regungslos lag. Eine plötzliche kleine Bewegung gab ihr Hoffnung, aber sie sah, daß es das matte Geflatter eines sterbenden Vogels war, der mit ihm hinabgestürzt war.
Sie wußte, daß er tot war. Und obwohl sie sich seinen Tod ungezählte Male gewünscht hatte, weinte sie in echtem Kummer.
»Oh, Herby, mein armer Liebling«, schluchzte sie. »Armer Herby.«
Über ihr, auf dem Dach des Taubenschlages, hatten sich die Tauben versammelt. Sie blickten mit schiefgelegten Köpfen zu ihr herüber und waren still. Der Tauber namens Claude gurrte leise.
Viel früher am selben Tag war Edward Smallwood angeln gewesen. Er war ein hochgewachsener, nervöser Mann, vorzeitig kahlköpfig und lebte mit fünfunddreißig noch bei seinen Eltern. Seine Nervosität war größtenteils der beherrschenden Persönlichkeit seines Vaters zuzuschreiben, eines Mannes, der viel kleiner war als er selbst, aber nach strengen Prinzipien und spartanischen Idealen lebte und sich nicht bemühte, seine Enttäuschung über den >Schwächling< zu verbergen, den er gezeugt hatte. Edwards noch kleinere Mutter liebte ihren Sohn zärtlich und versuchte, ihn in fehlgeleiteter Fürsorglichkeit gegen die Mißhelligkeiten des Lebens und die Strenge seines Vaters abzuschirmen. Nichtsdestoweniger liebten beide Eltern ihren schlaksigen, mit einem Rundrücken behafteten >Jungen< in ihrer verschiedenen und gleich schädlichen Weise. Sie beaufsichtigten sein Leben in einem so umfassenden Ausmaß, daß jeder Funke von Eigeninitiative, jede impulsive Neigung seiner Natur schon in sehr frühem Alter ausgetrieben worden war, nicht bösartig, sondern in einer freundlichen, fürsorglichen Art und Weise. Und weil es in Freundlichkeit getan worden war, wenngleich in einer strengeren Freundlichkeit von seiten seines Vaters, war die Wirkung dauerhafter. Sie hatten ihm mit sechzehn seinen ersten und einzigen Arbeitsplatz verschafft, einen Arbeitsplatz in der Bank, die von einem Freund der Familie geschäftsführend geleitet wurde; es war ein guter Arbeitsplatz, sicher und angesehen. Dort war er geblieben und hatte sich mehr durch Fleiß und Beharrlichkeit als durch natürliche Fähigkeit zur Position eines stellvertretenden Direktors emporgearbeitet. Er hatte alle Versetzungen, die ihm von Zeit zu Zeit angeboten worden waren, ohne langes Überlegen abgelehnt, da er die geschäftige, aber freundliche Kleinstadt Ringwood am Rande des New Forest nicht verlassen wollte und außerdem wußte, daß seine Eltern es sowieso nicht erlauben würden. Er war keineswegs enttäuscht gewesen, als der Direktor, der Freund seiner Familie, vor zwei Jahren gestorben war, und man ihm die freigewordene Position nicht angeboten hatte. Es war ihm nicht einmal in den Sinn gekommen, daß er die Stellung hätte anstreben sollen, und er wunderte sich über den Unmut seines Vaters in dieser Sache.
Edward hatte bis dahin niemals wirklich jemanden gehaßt; nicht gemocht, sicherlich, gefürchtet, ganz gewiß, aber Haßgefühle gab es bisher nie in seinem Leben. Norman Symes, der neue
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