Unheil
Kerl.
Tränen glänzten in Lena Browns Augen, und es waren nicht Tränen des Selbstmitleids oder des Kummers, sondern Tränen des Hasses.
»Ich wünschte, du würdest verrecken«, sagte sie durch die Zähne, und ihr Atem brachte die Fensterscheibe zum Anlaufen. »Ich wollte, der Teufel würde dich holen.«
Herbert erreichte die Seitentür zu seinem Laden und fummelte nach dem Schlüsselbund. Einmal hatte seine Frau die Tür von innen verriegelt. Nur einmal, nie wieder. Wegen des Aufruhrs, den er veranstaltet hatte, war die Polizei gerufen worden, und danach hatte sie nie wieder gewagt, ihn aus seinem eigenen Haus auszusperren. Er fand den richtigen Schlüssel und hatte keine Schwierigkeiten, ihn in das Schlüsselloch zu stecken und umzudrehen. Mit einem zornigen Stoß öffnete er die Tür und warf sie hinter sich zu, ohne darauf zu achten, ob er seine Frau im Obergeschoß störte. Nicht, daß sie schlafen würde. O nein, sie wartete auf ihn, ganz gleich, wie spät es war. Man könnte meinen, ihr müßte mittlerweile vom Klang ihrer eigenen Stimme schlecht werden. Nun, von ihm aus konnte sie platzen! Sie war nicht wichtig.
Er tastete sich durch den dunklen Korridor und die Stufen hinunter zum Hinterhof, ohne das Licht anzudrehen. Er entriegelte die schwere rückwärtige Tür, trat hinaus in die kühle Nachtluft und sog sie tief ein. Er öffnete den Reißverschluß seiner Hose und urinierte auf den Hof. Das Geräusch, mit dem der gelbe Strahl auf den harten Beton spritzte, machte ihm Spaß. Er wußte selbst nicht, warum er es tat, die Toilette war direkt gegenüber, und es hatte ihn ein kleines Vermögen gekostet, die im Obergeschoß einbauen zu lassen. Es war eine der kleinen Freuden des Lebens, sagte er sich. Und erboste Lena.
Als der Strahl seinen Druck verlor und sich zu seinen Schuhen zurückzog, wurde ihm ein anderes Geräusch bewußt. Das Gurren von Tauben.
Er blickte zum Dach auf. Seine Tauben — sie waren heimgekommen, welch ein Glück! Er lachte laut und zog rasch den Reißverschluß hoch, wobei er nasse Finger bekam. Er wischte sich die Hände an der Jacke ab und schwankte zurück ins Haus, ließ die Tür weit offen. Mühsam tappte er die Treppe hinauf, fluchte, als er stolperte und gebrauchte beide Hände, um die Stufen vor ihm zu ertasten. Als er endlich den Treppenabsatz und das Fenster zum Dach erreichte, hörte er die Stimme seiner Frau aus dem Schlafzimmer.
»Du Saukerl, du dreckiger!« rief sie. »Du bist schlimmer als ein Tier! Warum benutzt du nicht die Toilette wie jeder normale Mensch?«
»Schnauze!« rief er zurück und hob mit Mühe ein Knie zum Fensterbrett. Jetzt mußte er achtgeben. Mehr als einmal schon hatte er hier den Halt verloren und war die Treppe hinuntergepoltert. Sie sagte immer, er würde noch einmal vom Dach fallen, und dann sei es nicht schade um ihn, aber er wußte, daß er sich niemals so betrinken würde, denn wenn er es täte, würde er nicht imstande sein, durch das verfluchte Fenster zu kommen.
Er arbeitete sich durch, indem er zuerst mit den Händen das Flachdach erreichte, den Oberkörper abstützte und dann den Rest nachzog. Noch immer konnte er aus dem Inneren des Hauses ihre Stimme hören, schrill und unangenehm. Aber er hörte auch das Gurren, viel lauter jetzt, und die flatternden und trippelnden Geräusche im Taubenschlag, die ihm anzeigten, daß die Vögel ihn gehört hatten und aufgeregt waren.
»Ich komme schon, meine Lieblinge«, rief er ihnen zu und war sich sogar in seiner Trunkenheit des einfältigen Lächelns in seinem Gesicht bewußt. Er achtete darauf, daß er der Kante des Flachdaches nicht zu nahe kam; der Sturz auf den Beton zehn Meter tiefer war nicht nach seinem Geschmack. »Ich wußte, daß du zurückkommen würdest, Claude. Ich wußte, auf dich kann ich mich verlassen. Was ist geschehen, hattet ihr euch verflogen?«
Er fummelte am Riegel der Tür und bemerkte, daß einige der neueren Vögel noch auf dem Dach des hölzernen Taubenschlages waren. Sie brauchten immer eine Weile, bis sie lernten, wie sie wieder hineinkommen konnten. Aber bald würden sie dem Beispiel der anderen folgen. »Claude, wo bist du, mein Lieber? Komm zu mir.« Er schaltete die Fahrradlampe ein, die, von einer Batterie betrieben, in der Hütte hing, und der plötzliche Lichtschein erschreckte mehrere Vögel, die in Panik herumflatterten.
»Ist schon gut, ihr Täubchen, ich bin es bloß. Ich tue euch nichts.« Herbert schloß die Tür hinter sich, so daß keine der
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