Unheil
niedertrampelnden Menge aus dem Weg zu gehen.
Sie sah sich um, aber die See hinter ihr war genauso bedrohlich. Sie schrie den näherkommenden Leuten entgegen, wie ein Kind in Erwartung der Strafe zu schreien beginnt. Aber sie ließen sich nicht beirren, schienen sie weder zu sehen noch ihre Rufe wahrzunehmen. Mavis erkannte die Gefahr und lief in einem Versuch, die Reihen zu durchbrechen, auf die Menschen zu, aber diese stießen sie zurück, kümmerten sich nicht um ihre Bitten, als sie sich vergeblich gegen sie stemmte und auf sie einschlug. Es gelang ihr, sich ein kurzes Stück durch die andrängenden Leiber zu kämpfen, aber die große Zahl derer, die noch vor ihr waren, machte jedes Durchkommen unmöglich. Erbarmungslos wurde sie zurückgedrängt, zurück in die wartende See.
Mavis fiel und rappelte sich in Panik wieder auf. Dabei stieß sie einen kleinen Jungen nieder und bückte sich sofort, um ihn aufzuheben. Er starrte geradeaus, sah sie nicht, wußte nicht einmal, daß er gerade hingefallen war.
Wieder wurde sie gestoßen, verlor das Gleichgewicht und den Jungen aus dem Griff. Ihre Lungen füllten sich mit salzigem Wasser, sie kam hustend und nach Luft schnappend an die Oberfläche, geblendet vom Salzwasser, schreiend und in Panik um sich schlagend. Was geschah? Hatte sie sich das Leben genommen und war dies die Hölle, in die alle Selbstmörder eingingen? Kaum fühlte sie Boden unter den Füßen, wurde sie schon von den nachdrängenden Leibern umgestoßen, und als sie diesmal hochzukommen versuchte, fielen andere Körper über sie. Sie zappelte und wand sich unter Wasser, geriet zwischen andere Arme und Beine. Luft entwich aus ihren Lungen, als sie unwillkürlich um Hilfe schrie — und dann überkam sie Müdigkeit. Ihr Zappeln wurde schwächer, und schließlich lag sie in der Schwärze unter den weiterstolpernden Menschen, von denen mehrere auf sie fielen und sie in den weichen Sand des Meeresboden drückten. Ihre Augen waren offen, als die letzten Luftblasen aus ihrem Mund entwichen. Der Schrecken war vorüber. Es gab keinen Schmerz mehr. Es gab keine Erinnerung an ihr Leben, keine Gedanken, die sie bis in den Tod verfolgten. Nur eine dunstige Leere. Keine Gedanken an Gott, keine Fragen, warum. Nur einen herabsinkenden weißen Schleier. Keinen Schleier des Friedens, nicht einmal einen der Leere. Nichts. Frei von Empfindungen und frei von Kälte. Sie war tot.
Die Bewohner von Bournemouth und die Feriengäste kamen aus ihren Wohnungen, Hotels und Pensionen, füllten zu Tausenden die Straßen, gingen zum Meer und ergossen sich über den Strand. Der Nebel, der ihnen gestern den Tag verdorben hatte, brachte sie an diesem Morgen um. Sie gingen in die See, um wie die Lemminge zu ertrinken; die Nachkommenden stiegen über die Leichen derer, die bereits ertrunken waren und sich im Wasser vor der Küste häuften. Menschen, die aus diesem oder jenem Grund nicht gehen konnten, töteten sich auf andere Weise. Hunderte konnten die See nicht erreichen, weil die Menge ihrer ertrunkenen Vorgänger sie daran hinderte; sie wurden später von Leuten, die in einem vergeblichen Versuch, der Katastrophe Einhalt zu gebieten, in den Badeort geeilt waren, schreiend vom Strand fortgezogen.
Die See wies den Nebel zurück, entweder wegen der Kälte des Wassers, oder weil die landwärts wehenden Winde ihn nicht vorankommen ließen. So verzog er sich wieder landeinwärts, als ob er ein lebendes Wesen wäre, das niemals an einem Ort und immer in Bewegung blieb, als ob er etwas suchte.
11
Holman betrat so geräuschlos wie möglich das dunkle Haus.
»Es wäre besser, die Klingel zu drücken und sie aufzuwecken, meinen Sie nicht?« raunte Barrow hinter ihm.
Holman schüttelte den Kopf.
»Warum nicht?«
»Ich weiß nicht«, flüsterte Holman. »Ich halte es einfach nicht für eine gute Idee.«
»Meinetwegen. Aber dies ist Einbruch und Hausfriedensbruch, das wissen Sie, nicht wahr?«
»Sie können draußen warten, wenn Sie wollen«, flüsterte Holman wütend.
»Kommt nicht in Frage, mein Lieber; ich werde Sie nicht aus den Augen lassen.«
»Dann seien Sie still und folgen Sie mir.«
»Ich sage jetzt nichts mehr, aber später —«
Holman wandte sich ab, verärgert über den arroganten Kriminalbeamten. Er ging auf das Wohnzimmer zu und öffnete leise die Tür. Es war leer. Er bewegte sich auf Zehenspitzen durch den Korridor zu der Tür, die zu Simmons Arbeitszimmer führte. Als er die Klinke niederdrückte, glaubte er, ein
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