Unheil
aufkommende Angst. Sie blieb stehen und versuchte, ihr Gleichgewicht zu halten.
Tod. Der Tod war so absolut, so endgültig. Würde sie Schmerzen erleiden, bevor ihr Körper der endgültigen Schwärze anheimfiel? Würde sie in jenen letzten Sekunden instinktiv dem Sog des Todes widerstehen, in panischer Angst versuchen, den Lebensatem wiederzugewinnen, den sie absichtlich aus ihren Lungen entweichen lassen wollte? Würde ihr Körper sie verraten und kämpfen, um die fliehende Seele zurückzuhalten und würde es dadurch statt rascher und endgültiger Auslöschung einen langen und schmerzhaften Todeskampf geben? Und was war mit dem Schmerz, der Seelenangst, die Ronnie auszustehen hätte, die ja dann für ihren Tod verantwortlich war. Wollte sie Ronnie ebenso wie sich selbst zerstören? Sie liebte Ronnie noch immer, wollte sie nicht verletzen, wie sie selbst verletzt worden war. Vielleicht gab es noch eine Chance; vielleicht würde Ronnie merken, daß sie nicht für heterosexuelle Liebe gemacht war. Vielleicht würde sie nach ein paar Wochen zu Mavis zurückkehren, desillusioniert von der Männlichkeit ihres neuen Partners, sehnsüchtig nach dem Verstehen und dem körperlichen Trost, den nur ihre Freundin ihr spenden konnte. Es mußte eine Chance geben! Und Mavis würde warten, bereit, ihr zu vergeben, begierig, sie in die Arme zu schließen, während Ronnie darum bettelte, sie wieder aufzunehmen. Und ihre Liebe würde stärker denn je sein, weil beide wissen würden, daß ihre Bindung jetzt unauflösbar war.
Das dunkle Meer ringsum war so beängstigend!
Sie wandte sich um, plötzlich nur noch bestrebt, das sichere Ufer zu erreichen, fern von jedem Todesverlangen. Wellen und Unterströmung warfen sie beinahe um und sie schrie vor Angst auf. Sie war keine gute Schwimmerin, und wenn ihre Füße den Boden verloren, würde es ihr schwerfallen, den Strand zu erreichen. Und es würde so sinnlos sein, jetzt zu sterben, da sie wußte, daß sie ihre Liebhaberin nicht unbedingt verloren hatte, daß ihre innere Bindung sie wieder zusammenbringen konnte.
Mit den Armen rudernd, tappte sie zurück, ängstlich darauf bedacht, das Gleichgewicht zu wahren. Sie fühlte sich wie in einem Alptraum, in dem ihre Beine zu Blei geworden waren und ihr nicht erlaubten, vor der Todesgefahr hinter ihr davonzulaufen.
Allmählich erreichte sie einen Punkt, wo die Wellen nur noch ihre Hüfte erreichten, und hielt einen Augenblick inne, um zu verschnaufen, erleichtert, daß sie in Sicherheit war. Nun, da die Bürde des Todes von ihr genommen war, erfüllte sie plötzlich eine eigentümliche Leichtigkeit.
Als sie tief aufatmete und umherblickte, weiteten ihre Augen sich verständnislos.
Dort kamen Hunderte — oder waren es Tausende? — von Leuten die Stufen zum Strand herunter und gingen auf sie zu, auf die See zu!
Träumte sie? Litt sie nach den aufwühlenden Erfahrungen der letzten Stunden an Halluzinationen? Die Leute marschierten in geschlossener Formation zum Meer, niemand sprach und alle starrten zum Horizont, als erginge von dort ein Ruf an sie. Ihre Gesichter waren weiß, sie schienen in Trance, kaum menschlich. Auch waren Kinder unter ihnen; einige gingen von selbst mit, ohne zu bestimmten Erwachsenen zu gehören; kleinere Kinder wurden getragen. Die meisten Menschen trugen Schlafanzüge und Nachthemden, einige waren nackt. Es sah aus, als wären sie auf einen Ruf hin, der Mavis entgangen war, alle zugleich aus den Betten gestiegen. Sie wandte den Kopf und blickte zurück zum dämmernden Meereshorizont, sah jedoch nur die dunkelgraue, drohende See.
Sie kamen näher, und Mavis sah, daß es tatsächlich Tausende waren, die sich in einem breiten Strom aus Häusern, Hotels, Seitenstraßen ergossen, eine riesige, wandernde Menge, deren Schritte das einzige Geräusch waren, das man hören konnte, und auch die Schritte blieben gedämpft, denn fast alle waren barfuß.
Mavis sah eine alte Frau in der vordersten Reihe straucheln und fallen, und der Atem stockte ihr vor Entsetzen, als die Menge über die Liegende weiter vorwärts drängte und sie in den Sand trampelte. Ihr Schritt verlangsamte sich nicht, als sie die See erreichten und in einer breiten Front von Menschenleibern hineinwateten. Sie sah nach rechts und links, und die Menschenmenge erstreckte sich zu beiden Seiten, so weit das Auge reichte. Das Schauspiel und seine Bedeutung waren so ungeheuerlich, daß es sich ihrem Verständnis entzog. Sie konnte nur daran denken, dieser alles
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