Unheilige Gedanken auf dem Heiligen Weg, mein Jakobsweg quer durch Spanien
Manchmal nicht. Was immer hilft, ist Annahme. Wenn ich mich gegen die Schmerzen auflehne, wird es noch schlimmer. Ich bin schon ganz gut geworden im Annehmen, auf meinem Weg. Aber ich will auch fair bleiben. Ich hatte ja, im Gegensatz zu Freddy, schon lange Gelegenheit, das zu üben.
Ich konzentriere mich auf die witzige Szenerie: Hühner scharren in der Wiese rund um die Zelte, bunte Wäsche flattert im Wind auf den Leinen, die zwischen den Zelten gespannt sind und müde Pilger liegen kreuz und quer im Gras. Ich bettle um etwas Essbares für Freddy bei denen, die gerade Brotzeit machen. Ich bemerke, wie leicht es mir fällt, für jemand anderen zu sorgen. Für mich selbst um etwas zu bitten ist nach wie vor schwierig für mich. Ich muss schmunzeln: so viele Seminare zur Persönlichkeitsentwicklung hatte ich schon besucht. Und ja, ich habe mich entwickelt, bin gewachsen. Hier, auf dem Camino de Santiago, erlebe ich jedoch mein herausforderndstes "Seminar". Hier geht es um das "wirkliche Leben". Hier bin ich mittendrin im schönsten "Anwendertraining". Ich hole mein Notizbüchlein hervor und schreibe meine Gedanken auf. Ich will diese wertvolle Lektion nicht vergessen.
Ich schreibe: "Den äußeren Camino zu gehen ist nicht die größte Herausforderung. Das tun viele Menschen: Alte, Junge, Behinderte, wie Sarah aus Kanada, die den Weg mit Krücken geht, weil ihr ein Bein amputiert wurde. Ich bewundere sie. Ich bewundere aber auch die Menschen, die sich auf den inneren Camino einlassen. Die eigenen Schatten anzuschauen, die alten Programme bewusst wahrzunehmen, bei sich zu bleiben, bei all den Ängsten, den Unsicherheiten, das ist eine große Leistung. Ich habe aufgehört, vor meinen dunklen Seiten davon zu laufen, mir etwas vorzumachen. Und ich bin stolz auf mich! Ja, Laura, das machst du gut!"
Nachdem ich meine Gedanken zu Papier gebracht habe, fühle ich mich besser. Mir hilft es, zu schreiben. Damit mache ich den Kopf frei, leere mein Hirn aus, banne die kreiselnden Gedanken auf Papier.
Jetzt sitzen wir entspannt vor unserem Zelt, das Nachtlager ist bereitet, der schlimmste Hunger gestillt. Das geschäftige Treiben ist einer trägen Stille gewichen. "Du Freddy", beginne ich vorsichtig, "ich werde ab morgen meinen Weg allein fortsetzen. Ich habe meinen Weg verloren und will ihn wiederfinden. Wir haben nicht nur einen verschiedenen Rhythmus, wir sprechen auch eine unterschiedliche Sprache." "Das habe ich schon erwartet", entgegnet Freddy, "es ist schon ok. Ich will ja auch meinen Weg finden." Wie erleichtert bin ich! Wie hatte ich mir das Hirn zermartert, wie ich es ihm beibringen könnte, und jetzt war es so einfach. Ich umarme ihn dankbar, wünsche ihm eine gute Nacht und "buon camino" und schlüpfe ins Zelt und in meinen Schlafsack, der einmal Freddy gehörte und der mich jetzt so wunderbar wärmte. Ich durfte ihn behalten. Heute fällt mein Nachtgebet besonders innig aus. "Danke, lieber Gott! Danke, Santiago! Danke Freddy!"
Frei wie ein Vogel
Ich schäle mich aus meinem Schlafsack. Ich bin wieder einmal die letzte Pilgerin, die ihre Sachen packt und genieße es. Ich sollte mir für meinen nächsten Pilgerweg, ja, ich würde ihn nochmal gehen, ein Zelt besorgen. Mit einem Zelt wäre meine Freiheit vollkommen. Keine Angst, keinen Schlafplatz zu bekommen, kein frühmorgendlicher Rausschmiss aus der Herberge, kein Schnarchkonzert und kein Geraschel der "mitten in der Nacht aufbrechenden" Pilger. Nur, wie sollte ich solch ein Zelt tragen? Ich hieve meinen, mir so schon zu schweren, Rucksack auf den Rücken und marschiere los. Wie schön, allein loszustapfen. Ohne Geplapper dem Vogelgezwitscher zu lauschen, selbst meine wegweisenden Pfeile aufzuspüren und mich auf die Natur und mich selbst zu konzentrieren tut mir nach den letzten Tagen mit Freddy gut.
"Je ne regrette rien!" trällere ich vor mich hin. Nein, ich bereue nichts. Ich hatte viel gelernt! Und jetzt war ich wieder bei mir - nur das zählte. Nein, ich will mich nicht total vereinnahmen lassen, nur um nicht einsam zu sein. Ich lasse mich nicht einsperren in ein, wie auch immer geartetes, Gefängnis. Ich will denken, was ich denken will und sagen können, was ich sagen will, ohne ständig Rücksicht zu nehmen. Ich will zuallererst mir selbst treu bleiben.
Heute liegt eine Achteinhalb-Stunden-Tour mit 32 Kilometern vor mir, dafür ohne nennenswerte Steigungen, allerdings streckenweise mit Asphalt, der die Füße quält, mit dem Ziel Villafranca del
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