Unheilvolle Minuten (German Edition)
Ultimatum zu stellen. Oder Mikey Bryan aus dem übernächsten Haus. Seine Spezialität bestand darin, mit dem Rad über den Bürgersteig zu flitzen und die Fußgänger über den Haufen zu fahren, wenn sie nicht einen Satz zur Seite machten. Oder der kleine Kenny Crane, auf dem alle herumhackten. In jeder Gegend gab es so ein Kind, und Kenny Crane mit seinem Babygesicht und dem mädchenhaften Gang hatte in der Arbor Lane diese Rolle. Jane hatte einmal gesehen, wie Artie, der nicht gerade ihren Vorstellungen von einem Helden entsprach, Kenny in Schutz nahm. Er hatte den Arm um Kenny Cranes zerbrechliche Schultern gelegt und den anderen Kindern gesagt, sie sollten ihn in Ruhe lassen. Vielleicht bestand für Artie ja doch noch Hoffnung.
»Hallo, Jane.«
Sie schaute auf und sah Amos Dalton vorbeistapfen. Er hatte eine Abkürzung hinten durch den Garten genommen. Amos. Ein Altmännername, und auch der Junge selbst war wie jemand, der verfrüht ins mittlere Lebensalter gekommen war. Immer ein besorgter Gesichtsausdruck, immer ein, zwei Bücher aus der Bücherei unterm Arm. Immer verstohlene Blicke zu Janes Brüsten hin. Ihre Brust machte sie derzeit sehr befangen. Sie war stolz darauf – die Brüste hatten sich praktisch über Nacht entwickelt –, zugleich genierte sie sich aber auch. Wollte sie haben und wollte sie auch wieder nicht. Wünschte sich, sie so unbefangen zur Schau stellen zu können, wie Karen das tat.
Als Amos unter ihr stehen blieb, verschränkte sie die Arme vor der Brust.
»Das mit eurem Haus tut mir sehr leid«, sagte er mit krächzender Stimme. »Und das mit deiner Schwester.«
Sie nickte und hoffte, er würde jetzt gehen.
»Wenn ich etwas tun kann, brauchst du’s nur zu sagen«, fuhr er fort und scharrte mit dem Fuß im Gras herum. Er trug keine Turnschuhe wie die anderen Kinder und Jugendlichen, sondern Schnürschuhe, das Schuhwerk des mittleren Lebensalters.
»Wer war das denn?«, fragte Leslie, als Amos davonstapfte. Sie verzog angewidert das Gesicht.
»Ein Junge aus der Nachbarschaft«, antwortete Jane. »Er ist ein bisschen komisch, aber nett.« Sie versuchte ihre Gereiztheit zu verbergen, wollte Amos in Schutz nehmen, die Nachbarschaft, sich selbst.
»Oh, oh«, sagte Patti. »Da wir gerade von komisch reden …«
Sie schauten auf und sahen Mickey Looney aus seinem alten, zerbeulten Lieferwagen steigen. Mickey war hier in der Gegend der Mann für alles. Er übernahm Aushilfsarbeiten, und je nach Jahreszeit mähte er Rasen, schippte Schnee oder fegte das Laub zusammen. Mit Geschnaufe und Geratter keuchte sein alter Lieferwagen durch die Straßen. Klein und rundlich, war Mickey alterslos, hätte ebensogut dreißig wie fünfzig Jahre alt sein können.
»Was ist denn das für einer?«, fragte Leslie, als erkundigte sie sich im Zoo nach einem sonderbaren Tier.
»Er heißt Mickey Stallings, aber alle nennen ihn Mickey Looney«, sagte sie. »Natürlich nur hinter seinem Rücken.« Das bedurfte einer Erklärung. »Weil er diesem alten Filmstar ähnlich sieht. Mickey Rooney, weißt du? Nur eben Looney, weil loony so was wie ›übergeschnappt‹ bedeutet und er ein bisschen verschroben ist.«
Kaum waren die Worte ausgesprochen, tat es ihr schon leid, den anderen von Mickeys Spitznamen erzählt zu haben. Hier in der Gegend war der Spitzname Mickey Looney liebevoll gemeint, voller Zuneigung zu diesem sanften Mann, der Hunde streichelte, kleinen Kindern durchs Haar wuschelte, den Männern ehrerbietig zunickte und zur Begrüßung der Damen an seiner verblichenen Baseballmütze rückte.
»Bei dem krieg ich Gänsehaut«, sagte Leslie.
»Ich auch«, stimmte Patti ihr zu.
»Er ist sehr nett«, sagte Jane. In ihr begann sich Zorn zu regen. Zorn auf Patti und Leslie und auch auf sich selbst. »Und er ist auch gescheit. Kann alle möglichen Reparaturen ausführen, kennt sich mit Pflanzen aus und lauter so Sachen. Mein Vater sagt, wenn er auf dem College gewesen wäre, hätte er es glatt bis zum Ingenieur bringen können. Aber es gefällt ihm, Reparaturen zu übernehmen, eigenverantwortlich zu arbeiten …«
Patti verdrehte die Augen. Jane kannte diesen Blick. Er besagte: Soll das ein Witz sein?
»Ich finde ihn immer noch höchst merkwürdig«, sagte Patti.
Jane kam sich wie eine Verräterin vor. An ihrem Haus, weil sie es Patti und Leslie preisgegeben hatte. An Mickey Looney, der in Wirklichkeit doch gar kein Spinner war. Sie hatte Mickey verraten, ihr Haus, die gesamte Gegend.
Während sie
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