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Unheilvolle Minuten (German Edition)

Unheilvolle Minuten (German Edition)

Titel: Unheilvolle Minuten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Cormier
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wenn ich getrunken habe«, sagte Buddy. Das stimmte. Er hatte erst vor sieben Wochen den Führerschein erhalten, und er hatte sich geschworen, sich nie ans Steuer zu setzen, solange Alkohol durch seine Adern floss. Das kostete ihn einiges an Willenskraft, denn seine Mutter bot ihm immer wieder an, dass er den Wagen haben könnte. Vermutlich hatte sie ihrerseits Schuldgefühle und versuchte, einen Ausgleich zu schaffen für das ganze Elend, das in ihr Leben getreten war. Buddy war in letzter Zeit nicht gerade stolz auf sich, aber er war stolz darauf, dass er diesen Schwur hielt, obwohl der Wagen, der Tag für Tag auf der Auffahrt stand, eine ständige Versuchung darstellte.
    Addy musterte ihn jetzt genauer, mit prüfend zusammengekniffenen Augen. »Ich habe das Gefühl, dass du jetzt in diesem Augenblick betrunken bist«, sagte sie.
    »Ich bin nicht betrunken«, verkündete er und richtete sich zu seiner vollen Größe auf, die jedoch nicht sehr beeindruckend war.
    Einen schrecklichen Augenblick lang sah sie ihn an, mit flammenden Augen, die dunkler waren als je zuvor. Dann wandte sie sich ab, stürzte davon und knallte die Tür hinter sich zu.
    Buddy zog eine Grimasse. Er merkte, dass er den Atem angehalten hatte, und stieß die Luft aus. Dieser schreckliche Ausdruck in ihren Augen. Wenn sie einander nicht mit völliger Gleichgültigkeit begegnet waren, hatten sie sich immer Blicke zugeworfen, in denen viel Dynamit lag. Addy geriet in Verzweiflung über seine Schlaffheit, seinen Mangel an Ehrgeiz, seine tollpatschige Art, überall dagegenzustoßen. Er konnte ihre straffe Zeitplanung nicht ausstehen und dass bei ihr alles ruck, zuck gehen musste, immer pünktlich, immer auf Trab. Er war alles andere als dumm, aber neben Addy wirkte er dumm, fühlte sich dumm.
    Er lehnte sich an die Werkbank, widerstand einem weiteren Schluck aus der Ginflasche und versuchte, sich ihren Ausdruck ins Gedächtnis zurückzurufen, den Blick, mit dem sie ihn angesehen hatte, bevor sie die Garage verließ. Dieser Blick. Nicht nur Ekel vor seinem Saufen, sondern noch etwas anderes.
    Im Badezimmer im Erdgeschoss putzte er sich die Zähne, nahm einen großen Schluck Mundwasser und gurgelte, hoffte darauf, dass der Gingeruch jetzt getilgt war. Er ging nach oben, lauschte auf dem Treppenabsatz, hörte nichts. Auf dem Flur im Obergeschoss sah er, dass die Tür zu ihrem Zimmer geschlossen war. Das war nicht ungewöhnlich, und auch das Fehlen jeglichen Geräuschs war nichts Besonderes. Addy hasste das Radio, konnte beim Lernen keine Rockmusik ertragen und auch sonst nichts, was auch nur im Entferntesten mit zeitgenössischer Musik zu tun hatte. Buddy hingegen schaffte es nicht, sich ohne die Unterstützung von Bruce Springsteen oder sonst jemandem dieser Art an die Hausaufgaben oder ein Referat zu machen.
    Leise klopfte er an die Tür. Was mache ich denn da? Klopfte noch einmal. Ich sollte froh sein, dass sie da drin ist und ich hier draußen stehe.
    »Was willst du?«, fragte sie mit undeutlicher Stimme.
    »Ich weiß nicht«, sagte er. Und das stimmte haargenau.
    »So was Blödes«, rief sie. Ihre Stimme hörte sich komisch an. Nein, nicht komisch, sondern gebrochen.
    Er stand da. Wartete. Worauf wartete er?
    Langsam machte sie die Tür auf, ließ sie erst ganz zurückschwingen, bevor sie auftauchte. Ihr Gesicht, das er dann schließlich doch noch zu sehen bekam, war rot und glänzend. Die Augen nass. Sie zog die Nase hoch, schnäuzte sich in ein Papiertaschentuch.
    Sie hatte geweint, Himmel noch mal.
    »Du hast geweint?«, sagte er.
    »Scharfe Beobachtungsgabe«, erwiderte sie. Das war natürlich sarkastisch gemeint.
    Und plötzlich war auch ihm nach Weinen zu Mute.
    Denn auf einmal sah er Addy und sich als das, was sie waren: die Kinder von Eltern, die in Scheidung lebten. Und sie wohnten in einem Haus, in dem es keine Liebe mehr gab.
    Und irgendwo lag ein wundes, zerschlagenes Mädchen im Krankenhaus.
    »Komm rein«, sagte Addy.
    Aber er konnte nicht in ihr Zimmer gehen. Er sah sie lange an und wandte sich dann ab, stürzte die Treppe hinunter und dann über den Flur aus dem Haus. Erst als er sich einen Häuserblock weiter auf der Oak Avenue wiederfand, merkte er, dass er rannte, ohne ein Ziel zu haben.
    Karen schlief unterdessen.
    War im Reich der Träume. Aber träumte sie wirklich? Und schlief sie überhaupt?
    Jane dachte über diesen seltsamen Ort nach, an dem Karen sich jetzt befand, zwischen Leben und Tod. Am Leben und doch nicht am Leben,

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