Unheilvolle Minuten (German Edition)
richtige Landplagen, aber immer noch besser als das stille, leere Haus.
»Hallo, Jane.«
Sie legte in ihrem Dauerlauf eine Pause ein, als Mickey Looney sich grüßend an die Baseballmütze griff.
Schwer atmend machte Jane bei ihm halt, dankbar für die Verschnaufpause. Sie war nicht gerade der sportlichste Mensch unter der Sonne. Wahrscheinlich sogar der unsportlichste.
»Hi, Mickey«, sagte sie. Er wurde verlegen, wenn ihn jemand direkt ansah. Tiefe Röte schoss ihm ins Gesicht.
»Wird es schon bald Zeit, die Tomaten zu setzen?«, fragte sie.
»Am dreißigsten Mai«, sagte Mickey ernsthaft, war mit einem Schlag der professionelle Pflanzer geworden. »Bei dem Wetter in New England ist es davor noch zu früh.«
Er zögerte, trat gegen etwas Unsichtbares, das auf dem Boden lag. »Wie geht’s Karen?«, fragte er. »Danach wollte ich mich schon immer mal erkundigen, mochte aber nicht stören.«
»Sie liegt immer noch im Koma«, sagte Jane. Als sie sein betroffenes Gesicht sah, versicherte sie ihm: »Sie muss nicht leiden, Mickey, und ihr Zustand hat sich nicht verschlechtert.«
»Hoffentlich wacht sie wieder auf«, sagte er und trat immer noch nach etwas Nichtvorhandenem.
Amos Dalton, diese seltsame Type, kam herbei. Wie gewöhnlich hatte er die Arme voller Bücher. Er schaute nicht auf, als er vorbeistapfte.
»Hey, Amos«, rief Jane spontan aus. »Was liest du denn gerade?«
Amos sah hoch, mit einem schmerzlichen Ausdruck, als täte es ihm weh, jemandem von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten. »Wozu willst du das wissen?«, fragte er.
»Nur so aus Neugierde.«
Mickey sagte: »Ich lese nicht mehr so viel, seit wir das Fernsehen haben.«
Verrückt, dachte Jane. Fernsehen gab es schon seit dreißig, vierzig Jahren.
»Fernsehen ist für die Doofen«, sagte Amos, und die finstere Miene, die er zog, ließ ihn wieder sehr viel älter aussehen, wie jemanden im mittleren Lebensalter.
Mickey fuhr zurück, trat einen Schritt nach hinten. »S ekunden der Angst seh ich am liebsten«, sagte er, ohne Jane dabei anzusehen. Oder Amos.
»Hey, Amos«, sagte Jane. »Ich sehe auch fern. Millionen von Menschen tun das. Wir sind nicht alle doof. Ich seh Sekunden der Angst auch gern.«
Amos drückte seine Bücher fester an die Brust. Wandte sich ab, drehte sich dann wieder um, schnitt eine Grimasse. »Hoffentlich geht’s deiner Schwester bald wieder besser«, sagte er. Seine Stimme klang verrostet, als täte ihm das Sprechen weh.
Die Bücher fest umklammert, marschierte Amos davon, eine einsame Ein-Mann-Parade. Mickey machte sich an seinen Geräten hinten auf dem Wagen zu schaffen.
»Wird Zeit, dass ich mich an die Arbeit mache«, sagte er und rückte an seiner Baseballmütze.
Jane joggte weiter, kein richtiges Joggen, sondern eine Art Gehen im Schnellschritt. Während sie die Straße entlanglief und um die Ecke bog, fühlte sie sich von der Begegnung mit diesen seltsamen Zeitgenossen irgendwie aufgemuntert. Vielleicht deshalb, weil der Mann und der Junge, zwei so verschiedene Menschen, von Karen gesprochen hatten. Sonst vermieden alle, sie zu erwähnen, so als gäbe es sie nicht mehr, wäre aus dem Leben der anderen Menschen entschwunden.
Auch sie war dem Leben der anderen entschwunden. Nur noch selten bekam sie Patti oder Leslie zu sehen. Die beiden nickten ihr zu, wenn sie sich in der Schule auf dem Gang begegneten, und manchmal erduldeten sie unbehagliche Mittagspausen am selben Tisch mit ihr. Ihre Unterhaltung war steif und oberflächlich, von langem Schweigen unterbrochen. Jane machte es ihnen nicht zum Vorwurf, dass sie die Freundschaft, die sie miteinander verbunden hatte, nicht mehr fortsetzten – falls es überhaupt eine Freundschaft gewesen war. Sie hatte sich als Erste zurückgezogen und die anderen gemieden, aus dem Gefühl heraus, dass sie zur Peinlichkeit geworden war; ein Gefühl, das an jenem Vormittag auf der Veranda begonnen hatte.
Ihre Trennung von Patti und Leslie bedeutete, dass sie nicht mehr schauspielern musste, nicht mehr so tun musste, als wäre alles bestens, sich nicht länger verpflichtet fühlte, ihr Haus und ihre Familie und Karen zu verteidigen. Und doch – wenn sie die beiden Mädchen den Gang entlanggehen sah, so unbefangen miteinander, lachend, lässig, dann überkam sie manchmal eine Sehnsucht, ein tiefes Verlangen nach … Sie war sich nicht sicher, wonach. Vielleicht einfach nach einer Freundin, mit der sie reden konnte.
Aber natürlich war all das nur geringfügig
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