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Unheilvolle Minuten (German Edition)

Unheilvolle Minuten (German Edition)

Titel: Unheilvolle Minuten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Cormier
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gern Schriftstellerin und Malerin oder Musikerin gewesen, um sich in einer kreativen Tätigkeit verlieren zu können und für die Gefühle, die sich in ihr regten, einen Ausdruck zu finden. Was für Gefühle? Es kam ihr so vor, als hielte sie sich selbst zum Narren, denn im Grund empfand sie gar nichts. Fühlte sich innerlich tot. Leer. Wie ein Gefäß, das darauf wartete, gefüllt zu werden. Womit gefüllt? Das wusste sie nicht.
    Ihr Vater berief eines Abends eine Familienversammlung ein. Dazu gab er keine besonderen Einladungen aus, aber irgendwie ließ er sie alle wissen, dass sie sich nach dem Abendessen im Wohnzimmer einfinden sollten. Dort stand er verlegen am Kamin, ihnen zugewandt, mit finsterer Miene. Jane fragte sich, ob er wohl Kopfschmerzen hatte, da er sich ständig die Stirn rieb.
    »Ich will eine Rede halten«, sagte er. »Eine kurze. Aber eure Mutter und ich haben das Gefühl, dass ein paar Dinge gesagt werden müssen.«
    Wenn ihre Mutter daran beteiligt war, dann bedeutete das, dass die Rede sich im Grunde nur an zwei Zuhörer richtete, an sie und Artie, ihren Bruder.
    »Wir können nicht so tun, als hätte die Zerstörung nicht stattgefunden«, sagte er, sprach mit angestrengter Stimme, als hätte er den ganzen Tag gegen den Wind angeschrien. »Aber das Leben geht weiter. Und wir leben hier, in diesem Haus. Wir müssen das alles hinter uns lassen. Nicht so, als wäre nichts geschehen, aber wir müssen vorwärtsschauen statt rückwärts. Wir können auch nicht so tun, als wäre Karen nicht im Krankenhaus und läge im …« Seine Stimme schwankte, und nachdem er eine kurze Pause eingelegt hatte, übersprang er das Wort Koma . »Wir müssen uns um sie sorgen, an sie denken, für sie beten und sie besuchen. Das alles haben wir getan und das müssen und werden wir auch weiterhin tun. Aber wir müssen auch mit unserem eigenen Leben weitermachen. Wir können es uns nicht leisten, verbittert zu sein. Dürfen uns von dem, was geschehen ist, nicht das ganze Leben kaputt machen lassen.«
    Er holte tief Luft, machte eine Pause. »Und jetzt möchte ich ein Thema ansprechen, das wir alle vermieden haben. Ich will von den Tätern reden. Wir wissen nicht, warum sie das getan haben. Warum sie sich unser Haus ausgesucht haben. Alle, auch die Polizei, sind der Ansicht, dass es sich um einen Zufall gehandelt hat, dass wir nicht das Gefühl haben sollten, es sei gegen uns gerichtet gewesen, als persönlicher Angriff auf unsere Familie. Die Welt ist voll merkwürdiger Gestalten, und einige von diesen merkwürdigen Gestalten sind über unser Haus hergefallen und haben schreckliche Dinge getan. Wir können nicht leugnen, dass es so war, aber wir müssen darüber hinwegkommen. Die Täter würden als die strahlenden Sieger hervorgehen, wenn wir es zuließen, dass ihr Tun uns verändert, unser Leben kaputt macht. Ja, Karen ist im Krankenhaus. Aber sie lebt, und die Ärzte geben ihr eine gute Chance, wieder gesund zu werden. Die Polizei ist der festen Überzeugung, dass sie ein ›unbeabsichtigtes Opfer‹ war, wie es in der Polizeisprache heißt. Dass die Zerstörer ihren Überfall auf das Haus verübt haben, aber nicht auf sie und nicht auf uns. Das müssen wir glauben und mit unserem Leben weitermachen.«
    So eine tapfere Rede, und sie wurde mit so viel Entschlossenheit und Vorsatz gehalten, dass Jane am liebsten zu ihm gestürzt wäre, um ihn zu umarmen.
    Danach fand die Familie zu einem geregelten Tagesablauf, eingebunden in geschäftige Tage und Abende. Ihr Vater ging wie gewohnt jeden Morgen zur Arbeit, verbrachte lange Stunden im Büro und den Rest seiner Zeit im Krankenhaus. An den Wochenenden spielte er jetzt nicht mehr Golf. Ihre Mutter verhielt sich, als würde sie jeden Morgen von jemandem aufgezogen und auf ihre tägliche Runde losgelassen. Wie ein Wirbelwind schoss sie zwischen Haus und Krankenhaus hin und her, voll eifriger Aktivität, und erledigte zwischendurch die Hausarbeit, Putzen, Staubwischen, Stricken, legte nur selten mal eine Atempause ein. All das löste in Jane die Frage aus: War das normal? Und was war überhaupt normal?
    Sie entwickelte ihre eigene Routine. Manchmal hatte sie keine Lust auf eine Busfahrt nach Wickburg, doch das Haus kam ihr einsam und verlassen vor. Dann zog sie ihre Turnschuhe an und Shorts und joggte durch die Straßen, wich der Radfahrer-Brigade aus und den widerborstigen Gören, ignorierte sie, wenn sie pfiffen und schrien oder versuchten, sie zu rammen. Die Kinder waren

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