Unheilvolle Minuten (German Edition)
schlafend und doch nicht schlafend.
Karen war in ihrem Krankenhauszimmer nur selten allein. Bis auf die Nachtstunden war fast ständig ein Familienmitglied bei ihr. An den Vormittagen hielt Janes Mutter Wache, und nachmittags nach der Schule gesellte sich Jane oft mit dazu. Abends saßen ihr Vater und ihre Mutter an Karens Bett, manchmal gemeinsam, manchmal im Wechsel. Jane schaute immer wieder mal im Krankenhaus vorbei, nicht nur nach der Schule, sondern auch auf dem Heimweg vom Einkaufszentrum oder vom Kino. Manchmal traf sie dort ihren Vater an und manchmal Artie. Die Familie hatte keinen offiziellen Besuchsplan. Der Tagesablauf hatte sich ganz natürlich entwickelt, und die unablässigen Krankenhausbesuche waren zu einer Gewohnheit geworden, um die ihr restliches Leben kreiste.
Eines Tages, als Jane allein bei ihr im Zimmer war, kam es ihr so vor, als versänke Karen immer tiefer und tiefer in diesen seltsamen, schrecklichen Schlaf, ihr Körper leicht und zierlich unter der Decke. Gelegentlich regte sie sich oder zuckte, plötzliche Reflexbewegungen, die für den Bruchteil einer Sekunde Hoffnung aufflammen ließen. Dann nichts, wieder Stille.
Der Arzt hatte der Familie empfohlen, mit Karen zu sprechen, aber das fiel Jane schwer. Es war ihr auch zu Hause schwergefallen, mit Karen zu kommunizieren. Obwohl Karen zwei Jahre jünger war, fühlte sich Jane nicht als ältere Schwester.
Karen glitt mühelos durchs Leben. Sie war in der Schule beliebt, lebte sich schnell in Burnside ein. Schon wenige Tage, nachdem die Familie aus Monument hierhergezogen war, hatte das Telefon ständig geklingelt, und es war immer für sie gewesen. Insgeheim hielt Jane ihre Schwester für eingebildet. In ihre zahllosen Schulfreundschaften vertieft, ignorierte Karen ihre Eltern ebenso wie Artie und ihre Schwester. Janes Existenz nahm sie nur dann wahr, wenn sie bei ihr im Zimmer eindrang und sich – ohne vorher zu fragen – ihre Kleider, ihr Parfüm, ihren Schmuck auslieh. Das führte zu Streit und Vorwürfen.
»Warum tut sie so, als würde es mich gar nicht geben, und leiht sich dann meine Sachen?«, hatte Jane ihre Mutter gefragt.
»Vielleicht beneidet sie dich.«
»Mich? Sie ist doch die mit den tausend Freunden, sie hat so viel Schick und Sinn für Mode …«
»Ja, aber du hast Geschmack, Jane«, sagte ihre Mutter. »Vergiss nicht, sie ist jünger, sie sieht zu dir auf. Deshalb borgt sie sich deine Sachen …«
»Warum fragt sie mich dann nicht einfach? Anstatt hinter meinem Rücken …«
»Sie ist schüchtern …«
Karen und schüchtern?
»Die Menschen sind nicht immer so, wie es den Anschein hat«, hatte ihre Mutter gesagt. Das war einer dieser geheimnisvollen Sprüche, auf die Eltern zurückgriffen, um ein Gespräch im geeigneten Moment zu beenden.
Jane betrachtete Karen im Bett. Sie sah verletzlich aus und – ja, auch schüchtern und ungeschützt, und Jane sagte: »Es tut mir leid.« Ihre Stimme klang zu laut in dem stillen Zimmer, in dem die leisen Piepstöne des Monitors das einzige Geräusch waren.
»Wenn du mich beneidet hast, kann es auch sein, dass ich eifersüchtig auf dich war«, räumte Jane ein und hoffte, dass Karen sie tatsächlich hören konnte. »Bitte komm da heraus, Karen, damit wir darüber reden, etwas dagegen tun können …«
Ihre Stimme verhallte, zusammen mit den seltsamen, aber irgendwie tröstlichen Dingen, die sie ihrer stummen Schwester gesagt hatte.
Während Karen in diesem hohen Krankenhausbett schlief, wurden im Haus Reparaturen durchgeführt. Eine komplizierte Alarmanlage wurde installiert, mit direkter Verbindung zur Polizeizentrale. Neue Möbel wurden gekauft, dazu drei Fernseher, ein CD-Spieler und zwei Videorekorder. Ihre Mutter kaufte auch neues Bettzeug – Ersatz für die Laken und Decken, die von den Eindringlingen zerfetzt worden waren. Ja, ihre Mutter verfiel in eine Art traurigen Kaufrausch und ersetzte sogar Gegenstände, von denen sie annahm, dass die Eindringlinge sie auch nur berührt hatten. Vor allem Kleidung. Zusammen mit Jane ging sie ins Einkaufszentrum und kaufte Blusen und Röcke – und brachte neue Hemden und Unterwäsche für Janes Vater mit nach Hause. Unterdessen wurden die Reparaturarbeiten in Rekordgeschwindigkeit ausgeführt. Die Arbeiter behandelten das Haus vordringlich und machten bereitwillig Überstunden, als wüssten sie, wie wichtig es war, die Spuren des Unheils so rasch wie möglich zu beseitigen. Unheil . Das war die Formulierung, die
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