Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unheilvolle Minuten (German Edition)

Unheilvolle Minuten (German Edition)

Titel: Unheilvolle Minuten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Cormier
Vom Netzwerk:
Er hatte sie sogar mit Reißnägeln an Anschlagbretter und Schließfächer geheftet, bis Harry ihm befohlen hatte, sie wieder herunterzunehmen. »Wir machen nicht auf uns aufmerksam.« Mit so viel Wut in der Stimme, dass man davor ganz klein wurde.
    Keine solchen Überfälle mehr, hatte Buddy schließlich zu Harry gesagt. Dein Wunsch ist mir Befehl, hatte Harry erwidert und sich tief verneigt, wie ein Schauspieler auf der Bühne. Harry, der Schauspieler, der – wie Buddy später erfuhr – nur so tat, als gäbe er nach.
    Am Esstisch war Buddy der Schauspieler, und vielleicht spielten auch seine Mutter und Addy Theater. Taten so, als säße jemand auf dem Stuhl, der ihrer Mutter gegenüberstand. Ein leerer Stuhl und kein Teller, kein Besteck. Eines Nachmittags schaute Buddy ins Esszimmer, als Addy gerade den Tisch deckte. Er sah sie in Tränen ausbrechen und merkte, was sie getan hatte. Aus alter Gewohnheit hatte sie an den Platz ihres Vaters einen Teller gestellt und Messer, Gabel und Löffel dazugelegt. Sie hatte sich von ihm abgewandt, das Gesicht vor Kummer so verzerrt, dass es grässlich entstellt war.
    »Lass das«, sagte Buddy mit einer Stimme, die rauer war, als er beabsichtigt hatte. »Er ist die Tränen nicht wert.«
    Buddy hasste das Esszimmer, weil es der Ort war, an dem sein Vater verkündet hatte, dass er ausziehen würde, aus ihrem Leben verschwinden. Diese Ankündigung, so überraschend und erschreckend sie auch gewesen war, ließ in Buddys Kopf etwas klicken, und plötzlich gab es eine Lösung für viele rätselhafte Dinge, die in ihrem Leben vor sich gegangen waren. Wochenlang war sein Vater geistesabwesend gewesen, saß still am Tisch, beteiligte sich nicht an den üblichen Gesprächen. Er kam oft zu spät zum Essen, sauste in letzter Minute herbei und redete plötzlich zu laut, brachte zu viele Entschuldigungen und Ausflüchte vor. All das hatte Buddy nur mäßig gewundert. Bis sein Vater seine große Ankündigung machte. Verlegen, mit gerunzelter Stirn und etlichem Räuspern. Fahrige Hände, die den Teller berührten, das Messer, die Gabel, das Weinglas, so dass der Rotwein ins Wirbeln geriet und fast über den Rand geflossen wäre.
    »Eure Mutter und ich sind zu dem Entschluss gekommen, dass ich für eine Weile ausziehen sollte«, sagte er mit erstickter Stimme. Wie Buddy später erfuhr, waren darin einige Unwahrheiten enthalten. Zunächst einmal war das die Entscheidung seines Vaters; seine Mutter hatte nichts damit zu tun. Und der Auszug war nicht »für eine Weile«. Sein Vater hatte nicht vor, wieder zurückzukommen.
    »Ziehst du zu dieser Frau?«, fragte Addy.
    Das war der eigentliche Schock für Buddy – die Erkenntnis, dass Addy schon die ganze Zeit von dieser Frau gewusst hatte. Der Schock war so groß, dass Buddy sich hinterher nicht mehr daran erinnern konnte, was sein Vater darauf geantwortet hatte und ob auch er über Addys Worte erschrocken war. Diese Worte blieben in Buddys Gedächtnis haften, hingen wie Wäschestücke auf der Leine, vom Wind gepeitscht, schlugen hin und her und hallten in seinem Kopf wider: diese Frau . Welche Frau?
    »Hört mal, Kinder, es tut mir leid. Ich wollte es euch nicht auf diese Weise mitteilen. Aber es gab keine geeignete Situation, in der ich es euch hätte sagen können.« Er schaute auf seinen Teller hinunter, vermied es, ihnen in die Augen zu sehen. »Ja, es hat mit einer Frau zu tun. Aber ich ziehe nicht mit ihr zusammen. Und all das war nicht geplant. Es hat sich einfach so ergeben.«
    Buddy warf seiner Mutter einen vorsichtigen, verstohlenen Blick zu. Wie nahm sie das auf? Sie hielt sich so aufrecht, als posierte sie für ein Foto. Ihre Hände waren gefaltet, lagen vor ihr auf dem Tisch. Das Essen auf ihrem Teller war unberührt. Sie schaute seinen Vater nicht an und auch nicht Addy oder ihn. Starrte ins Leere, wie in Trance, als stellte sie zwar ihren Körper für diese Szene zur Verfügung, aber sie selbst, ihr Wesen, das, was sie ausmachte, war nicht da, war abwesend, irgendwohin entschwunden, weil das Gesagte so schrecklich war, dass sie es nicht ertragen konnte.
    »Buddy, Addy – ich habe euch lieb«, fuhr sein Vater fort. »Das wisst ihr und es erübrigt sich, es euch zu sagen. Aber ich sage es trotzdem. Was zwischen eurer Mutter und mir geschehen ist, hat nichts mit euch zu tun, nichts mit meiner Liebe zu euch.«
    Hinterher, natürlich, setzte sich Addy mit seinen Argumenten auseinander und wies sie alle zurück.
    »Hast du gehört,

Weitere Kostenlose Bücher