Unheilvolle Minuten (German Edition)
hatte er ihnen geradewegs in die Augen gesehen und gelogen. Nein, er hatte Vaughn Masterson an seinem Todestag nach der Schule nicht mehr gesehen. Er hatte dabei gelernt, dass Lügen ganz leicht war, viel leichter, als in der Klasse die Aufgaben herzusagen. Im Kino und im Fernsehen sah der Schuldige immer schuldig aus. Schwitzte, konnte niemandem in die Augen sehen. Aber der Rächer beantwortete die Fragen mit seiner allerbesten, hilfsbereiten Stimme, so wie er seiner Mutter anbot, etwas für sie zu besorgen, auch wenn er keine Lust hatte, Besorgungen zu machen.
Gähnend vor Langeweile, versuchte der Rächer abzuschalten, den Pfarrer nicht mehr zu hören. Dabei machte er eine erstaunliche Entdeckung. Die Erkenntnis kam ihm, als der Pfarrer sagte: »Niemand weiß, warum Vaughn an diesem Nachmittag sterben musste.« Diese Worte gingen dem Rächer im Kopf herum. Niemand weiß, warum. Warum. Mit anderen Worten: Weder die Polizei noch sonst jemand kannte den Grund für den Mord, das Motiv. Er stürzte sich auf dieses Wort. Motiv . Im Kino und im Fernsehen hatte er es schon tausendfach gehört – Wenn wir erst mal das Motiv haben, finden wir auch den Mörder –, aber bis zu diesem Augenblick war ihm die tiefere Bedeutung nicht bewusst gewesen. Das Motiv ist die Verbindung zwischen Täter und Opfer. Das Motiv ist der Pfeil, der auf den Täter weist. Wenn sich kein Motiv findet, wird auch der Täter nicht gefunden. Ganz einfach. Großartig. Deshalb konnte man niemanden mit dem Mord an Vaughn Masterson in Verbindung bringen und wusste nicht einmal, dass es Mord war.
Merk dir das fürs nächste Mal, hielt er sich vor, als der Pfarrer schließlich aufhörte und die Orgel losdröhnte, dass die Bänke vibrierten.
Es fiel dem Rächer schwer, nicht zu lächeln. Er musste sich die Hand vor den Mund halten, als alle aufstanden und zusahen, wie Vaughn Mastersons Sarg auf einem Rädergestell vorbeigeschoben wurde.
Buddy graute es vor den Abendmahlzeiten. Seine Mutter bestand darauf, dass er und Addy sich um Punkt Viertel nach sechs am Tisch einfanden. »Dass wir einmal am Tag zusammen sind, ist das Mindeste, was wir tun können.«
Sie war schick und gepflegt, jedes Haar an seinem Platz, schlank und elegant. Wenn sie in der Küche das Essen kochte oder einen Kuchen backte, wirkte sie nie unordentlich, hatte nie ein Stäubchen Mehl im Gesicht. Sogar ihre Schürzen waren schick und dienten nicht nur als Schutz vor Flecken und Spritzern. Sie passten immer zu dem, was sie gerade anhatte.
Die Mahlzeiten waren eine Qual. Und das Essen war auch nicht gerade ein erhebender Genuss. Da seine Mutter fünf Tage in der Woche in der Innenstadt von Wickburg als Chefsekretärin arbeitete, bereitete sie im Voraus Aufläufe zu und erhitzte sie dann in der Mikrowelle. Aufläufe oder Tiefkühlkost, cholesterinarm und mit wenig Kalorien. Zum Ausgleich kochte sie an den Wochenenden ausgefallene Sachen nach exotischen Rezepten, die sie ihrer Sammlung von Kochbüchern entnahm. Zurzeit experimentierte sie mit Ingwer herum. Lauter verrückte Gerichte, vor allem japanische, die mit Ingwer gewürzt waren. Buddy aß sie ohne Begeisterung und ohne Widerwillen, brachte die Prozedur mit mechanischen Bewegungen hinter sich, wie er es bei allen Dingen in seinem Leben tat. Addy kaute gleichgültig drauflos; Essen war für sie nie etwas Aufregendes. »Ich führe ein Leben des Geistes«, pflegte sie mit Vorliebe zu sagen. Als Buddy jedoch eines Tages in ihr Zimmer gegangen war und ein Lexikon suchte, das er für seine Hausaufgaben brauchte, hatte er ungefähr tausend Bonbonpapierchen bei ihr gefunden.
Abgesehen vom Essen bestand die Mahlzeit aus Geplauder zwischen seiner Mutter und Addy, ohne jede Pause dazwischen, so als müssten sie Strafe zahlen, wenn einmal Schweigen einsetzte. Leichte Konversation. Über die Schule und die Arbeit und das Wetter und die Verkehrssituation, Himmel noch mal. Buddy schaltete ab. Das war ganz leicht, wenn man in den warmen Glanz eingetaucht war, der vom Gin ausging.
Er fragte sich, was wohl passieren würde, wenn er den geregelten Ablauf der Mahlzeit störte. Ihnen zum Beispiel den Artikel zeigte, den Randy Pierce aus der Zeitung ausgeschnitten hatte.
Haus von Rowdys verwüstet
Vierzehnjähriges Mädchen verletzt
Siehst du, was dein Sohn gemacht hat, Mom? Er hat für Beschäftigung gesorgt, sich dabei aber nicht von Dummheiten ferngehalten. Randy hatte von dem Artikel Kopien angefertigt und sie in der ganzen Schule verteilt.
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