Unheilvolle Minuten (German Edition)
Nacht, eine Welt ohne Jahreszeiten und ohne Wetter.
Er setzte sich auf eine gelbe Plastikbank und betrachtete den Springbrunnen, der nicht mehr funktionierte. Sah ihn an, ohne ihn wirklich zu sehen. Ohne überhaupt etwas zu sehen. Wollte auch gar nichts sehen, war aber nach einer Weile nicht mehr in der Lage, die Menschen zu ignorieren, die kamen und gingen, an ihm vorbeiliefen. Jungen und Mädchen, die sich an den Händen hielten oder so eng nebeneinander gingen, dass sie einander streiften. Ihr Anblick machte ihn traurig, und er wusste nicht, warum diese Trauer noch zu jener anderen hinzukam, die ihn hierhergeführt hatte.
Ein Pärchen ging Hand in Hand vorbei; das Mädchen mit langen, fließenden blonden Haaren und der Junge groß, der Typ eines Basketballspielers. Die beiden blieben unvermittelt stehen und umarmten sich, als wären sie allein auf diesem Planeten. Ob sie eines Tages heirateten, Kinder bekamen, vielleicht zwei, und sich dann trennten und später scheiden ließen?
»Jemand gestorben?«
Im selben Augenblick, als Buddy die Worte hörte, hob er den Kopf und sah Harry Flowers, der auf ihn hinunterblickte. Redet der mit mir? Buddy erkannte ihn sofort. Harry Flowers, einer der beliebtesten Jungen an der Wickburg Regional Highschool, außerdem der Gegenstand vieler Gerüchte: Drogen, Alkohol, wilde Unternehmungen.
»Du siehst jedenfalls so aus, als ob jemand gestorben wäre«, sagte Harry. Jetzt war kein Irrtum mehr möglich; er sprach eindeutig mit Buddy. »Ich schau dir schon eine ganze Weile zu. Du bist bei uns an der Schule, stimmt’s?«
Buddy nickte, stand auf. Harry Flowers war ungefähr so groß wie er, wirkte aber größer, weil er sich so gerade hielt, fast schon strammstand. Gleichzeitig aber brachte er es fertig, ganz lässig zu sein. Seine Augen waren khakifarben, manchmal wie verschleiert, dann aber wieder, so wie jetzt, voller Anteilnahme. Buddy hatte ihn gesehen, wie er in der Schule durch die Gänge schlenderte, immer von seinen Freunden umgeben, locker und lachend, niemals in Eile, zur nächsten Stunde hastend.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Harry.
»Niemand ist gestorben«, antwortete Buddy. Ihm fiel auf, dass Harry Flowers sich nicht die Mühe gemacht hatte, sich vorzustellen. Er ging davon aus, dass Buddy wusste, wer er war. Buddy sagte nichts mehr, zuckte mit den Schultern, wollte Harry Flowers nicht in interne Familienangelegenheiten einweihen.
»Du brauchst Action«, sagte Harry mit seinem ebenso selbstbewussten wie vertraulichen Lächeln. »Ein bisschen Abwechslung. Ein bisschen Spaß …« Wackelte mit den Fingern, ließ die Augenbrauen tanzen. Erstaunlich: Harry Flowers, dieser coole Typ, machte Groucho nach, einen der Marx Brothers.
An diesem Abend mit Harry kam Buddy nicht zum ersten Mal mit Alkohol in Berührung. Aber er entdeckte erstmals das herrliche Entkommen, das Alkohol bot. Zuvor hatte er auf Partys getrunken oder bei Footballspielen ein paar schnelle Schlucke aus einer Flasche genommen, die in einer Papiertüte steckte. Die Aufregung dabei hatte ihn besoffener gemacht als der eigentliche Alkohol. Oder was er damals als besoffen bezeichnete. Aber auf dem Beifahrersitz neben Harry, während Randy Pierce und Marty Sanders auf der Rückbank ihre Abbott-und-Costello-Nummer abzogen, entdeckte Buddy die wunderbare Wirkung des Alkohols, wie er besänftigte und streichelte, die raue Wirklichkeit verschwimmen ließ und ihn – fast – glücklich machte. Träge und mit einem Gefühl: Was soll’s?
An diesem ersten Abend tranken sie nur und redeten und rissen Witze, und Harry setzte ihn zu Hause ab. Aufs Geratewohl lief Buddy über den Gartenweg auf das Haus zu, stolperte beim Hineingehen und hatte Glück, dass seine Mutter und Addy schon schliefen. Er fiel ins Bett und der herrliche Zauber des Alkohols ließ ihn in gesegneten Schlaf versinken.
Später kam der »Spaß«, Harrys Bezeichnung für Unternehmungen, die, nüchtern betrachtet, blöde waren, aber in betrunkenem Zustand aufregend und wagemutig. Die Abende begannen immer auf die gleiche Weise. Gemächliches Trinken im Auto, lockere Gespräche, Witze reißen, Marty und Randy zuhören, die auf dem Rücksitz ihre Art der Unterhaltung abspulten. Nach einer Weile fiel Buddy auf, dass Harry nicht viel trank, falls überhaupt. Aber er ermunterte Buddy und die anderen dazu und versorgte sie mit einem unerschöpflichen Vorrat an Alkohol. Darunter auch mit dem Gin, der Buddys persönliches Gesöff wurde. Er
Weitere Kostenlose Bücher