Unheilvolle Minuten (German Edition)
eigenen Worte.
Er lächelte, ein kleines, mattes Lächeln. »Die Dinge ändern sich«, sagte er. »Es heißt, dass der Körper sich alle sieben Jahre vollständig erneuert. Vielleicht stehe ich am Anfang eines neuen Kreislaufs.«
Sie glaubte ihm kein Wort.
Als sie ihn verstohlen musterte, dachte sie daran, wie selten man andere Menschen betrachtete. Sogar Väter. Ihr Vater hatte sich vor einigen Jahren einen Schnurrbart wachsen lassen, hatte ihn ein paar Monate lang getragen und ihn dann eines Morgens vor dem Frühstück wieder abrasiert. Am Frühstückstisch bemerkte niemand seine glatt rasierte Oberlippe. Als er sich auf den Weg zur Arbeit machte, sagte Artie, dessen scharfen Augen kaum etwas entging: »He, Dad, ist was mit deinem Gesicht?« Aber selbst Artie hatte nicht bemerkt, dass der Schnurrbart weg war, nur dass das Gesicht seines Vaters an diesem Tag irgendwie anders aussah. Beim Abendessen war ihrer Mutter dann schließlich aufgefallen, dass der Schnurrbart fehlte.
Jetzt fehlte kein Schnurrbart, aber ihr Vater sah hier in der Küche, um drei Uhr nachts, einsam und verlassen aus. Die Haare zerzaust, die Augen stumpf, lustlos. Unrasiert. Wenn er sprach, lag in seiner Stimme ein Tonfall, der ihr irgendwie bekannt vorkam und ihr Unbehagen bereitete. Wo hatte sie diesen Tonfall schon mal gehört? Dann fiel es ihr wieder ein. Die Stimme, mit der er geantwortet hatte, als der Inspektor ihn fragte, ob er Feinde hätte. Die Stimme eines kleinen Jungen. Gar nicht ihr Vater. Wieder überlief Jane ein Schauder, so wie damals an jenem Tag, aber diesmal noch schlimmer. Schlimmer, weil es so spät in der Nacht war. Ihr schauderte nicht vor Kälte, sondern vor Grauen. Ein Gedicht aus der Schule fiel ihr ein: »Alles zerfällt, die Mitte kann’s nicht halten.« Ihre Familie zerfiel, und ihr Vater war die Mitte. Konnte er sie zusammenhalten? Und wenn nicht, wer sollte es dann können?
»Und was ist mir dir, Jane? Wieso bist du um diese verrrückte Uhrzeit auf?«
»Ich hab dich gehört, und da hab ich mir Gedanken gemacht, ob du was hast, krank bist oder so.«
»Ich bin gesund«, sagte er. »Nur ruhelos.«
Seine nächsten Worte erschreckten sie.
»Ich hab schlecht geträumt«, sagte er. »In letzter Zeit habe ich öfter Albträume. Jedenfalls glaube ich, dass es Albträume sind. Ich wache dann schwitzend auf, kann mich an den Traum aber nicht mehr erinnern, nur an das Gefühl, die Aura. Wie eine schwarze Wolke, dabei handeln die Träume aber nicht von schwarzen Wolken. Nur so ein Gefühl von etwas Dunklem, Bedrohlichem …«
Ach, Dad, sag doch nicht so was . Väter haben keine solchen Träume. Kinder laufen mitten in der Nacht zu ihrem Vater, wenn sie schlecht geträumt haben. Von Vätern wird erwartet, dass sie die Kinder dann trösten und sagen: Es war ja nur ein Traum, nur ein Traum.
»Glaubst du, dass der Traum von Karen handelt? Weil sie in so einer Art schwarzen Wolke ist?«
Er sah sie scharf an. »Glaubst du das?«
Sie zuckte mit den Schultern. Versuchte sich ganz gelassen zu geben, obwohl ihr Panik durch die Adern schoss. Eigentlich müsste doch er die Antworten wissen.
»Ich mache mir natürlich Sorgen um sie«, sagte er. »Das tun wir alle. Am schlimmsten ist wohl diese Hilflosigkeit. Dass wir nichts tun können, um ihr zu helfen …«
»Vielleicht weiß sie’s ja doch, Dad«, sagte Jane. »Vielleicht hört sie uns, wenn wir sie besuchen und mit ihr reden, wie der Arzt es uns geraten hat. Weiß, dass wir da sind.« Sie wusste selbst nicht so recht, ob sie das glaubte, aber sie hatte das Bedürfnis, ihm Trost zu spenden.
Eine Weile herrschte Schweigen. Nächtliche Stille, die anders war als morgens oder am Nachmittag. Keine Autos fuhren vorbei, draußen lärmten keine Kinder. Keine Rasenmäher. Nicht einmal die Geräusche der Natur, Vögel, Hunde und Katzen.
Die Kinnlade ihres Vaters bekam einen verkrampften Zug, an seinen Schläfen hämmerte der Puls, die Lippen waren fest zusammengepresst. »Und noch etwas«, sagte er, und da war wieder dieser brodelnde Zorn. »Hilflos gegenüber denen, die ihr das angetan haben, uns das angetan haben. Wenn ich sie nur in die Finger bekäme …« Verlegen schaute er zu ihr auf. »Entschuldige«, sagte er. »Nächtliches Geschwätz, das ist alles.« Er raffte sich auf, stemmte sich von der Spüle hoch. »Gehen wir ins Bett, Jane. Schlaf ist die beste Medizin …«
Es dauerte lange, bis Jane wieder einschlief. Sie wälzte sich hin und her. Verhedderte sich in
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