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Unheilvolle Minuten (German Edition)

Unheilvolle Minuten (German Edition)

Titel: Unheilvolle Minuten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Cormier
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diesen Worten schrumpfte der Rächer innerlich zusammen.
    Er wusste, welche Frage kommen würde: Hast du Vaughn Masterson umgebracht?
    Deshalb konnte sein Großvater ihn nicht ansehen. Wie dieser Staatsanwalt in der Fernsehserie, der sich vom Zeugenstand abwandte und die Jury ansah, wenn er den Mörder befragte. So als wäre die Stadt da draußen die Jury, und er, der Rächer, befände sich im Zeugenstand.
    Der Rächer musste etwas sagen. Also fragte er: »Was möchtest du mich denn fragen, Gramps?« Legte sich einen munteren Tonfall zu, wie sonst auch.
    Dann kam der Augenblick.
    Als wäre es so geplant gewesen.
    »He, was ist das denn?«, fragte sein Großvater, plötzlich abgelenkt, und beugte sich über das Geländer, um nach unten zu schauen.
    Der Rächer erhob sich von seinem Stuhl, und mit einem Mal verlief alles in Zeitlupe. Das war verrückt, denn er bewegte sich sehr schnell, seine Arme und Beine funktionierten perfekt, wunderbar. Er sprang auf, zugleich aber auch langsam, so langsam wie nur möglich, bewegte sich über den Balkon, und es war, als sähe er sich jetzt beim Rennen zu, schnell, hob die Hände, als sein Großvater sich umzudrehen begann, fast so, als wäre bei ihm ein Alarm ausgelöst worden, hatte sich schon halb umgewandt, als der Rächer, der jetzt nicht mehr beobachtete, sondern handelte , ihn stieß. Stieß tief unten gegen ihn, jetzt auch nicht mehr in Zeitlupe, sondern schnell, schnell und tief, unterhalb seines Hinterns, die dünnen, harten Knochen, die Entschlossenheit, die Mittel , es zu tun, und auch Verzweiflung, denn er wusste, dass ihm nichts misslingen durfte, alles wäre verloren, wenn ihm jetzt etwas misslang. Ohne Vorwarnung hob sein Großvater ab, die Arme ausgebreitet, schraubte sich nach oben, als wollte er fliegen, seine langen, dünnen Arme wie die Tragflächen eines Flugzeugs oder die Flügel eines verwundeten Vogels, und er schrie, ein schrecklicher Klagelaut drang aus ihm hervor, als er einen Augenblick lang in der Luft schwebte, mit wild um sich schlagenden Armen, die ins Leere griffen. Dann fiel er. Wie eine Marionette, an der man die Fäden durchgeschnitten hatte, wie ein Ast, der vom Wind abgerissen wurde. Stürzte hinunter, lauter Arme und Beine, die in der Luft herumzappelten.
    Im letzten Augenblick wandte der Rächer die Augen vom Sturzflug seines Großvaters ab. Wollte nicht sehen, wie er unten auf dem Pflaster landete. Wie im Film, wenn die Kamera in letzter Sekunde zur Seite schwenkte und man erleichtert aufatmete, weil man es nicht sehen wollte, das Zerplatzen, das Ganze eben.
    Er zog sich vom Geländer zurück und setzte sich einen Augenblick auf den Stuhl. Wartete darauf, dass er etwas hörte. Hörte aber nichts. Keine Schreie oder Sirenen, nichts. Als wäre er taub geworden. Er zählte bis zehn. Langsam. Dann ging er in die Wohnung und nahm den Telefonhörer ab, hielt inne und rief sich ins Gedächtnis zurück, was er in der Schule an Verhaltensweisen bei Unglücksfällen gelernt hatte. Wählte den Notruf und sagte der Stimme, die sich meldete, dass man bitte einen Krankenwagen schicken sollte, sein armer, alter Gramps sei vom Balkon gefallen.
    Jane fuhr erschrocken aus dem Schlaf auf. Irgendetwas hatte sie gehört – Schritte im Flur? Eine zufallende Tür? –, und sie fragte sich, ob die Zerstörer wiedergekommen waren, sich mitten in der Nacht Zutritt ins Haus verschafft hatten. Dann beruhigte sie sich, erkannte die Schritte ihres Vaters, der in Pantoffeln den Flur entlangschlurfte, zum Badezimmer hin.
    Sie konnte nicht wieder einschlafen, kämpfte mit der Bettdecke, die ihr für diese milde Nacht zu warm erschien. Als sie die Decke von sich geworfen hatte, wurden ihre Schultern in dem dünnen Nylonnachthemd kalt. Sie dachte an Karen, die im Krankenhaus Tag und Nacht schlief, weder Hitze noch Kälte bemerkte.
    Plötzlich fiel ihr auf, dass ihr Vater aus dem Bad nicht zurückgekommen war. Sie setzte sich im Bett hoch, sah auf die leuchtend roten Zahlen der Digitaluhr. 2:57.
    Sie stieg aus dem Bett, ging über den Flur. An der Treppe entdeckte sie unten im Erdgeschoss einen Lichtstreifen. Sie fand ihren Vater in der Küche vor, wo er, ein Glas Milch in der Hand, am Spülbecken lehnte.
    »Was ist denn los, Dad?«
    Er fuhr sich mit der Hand über den Anflug von Bartstoppeln. »Ich konnte nicht schlafen«, sagte er mit einem Gähnen, das aber nur ein vorgetäuschtes Gähnen war.
    »Du hast doch sonst so einen gesegneten Schlaf«, sagte sie, zitierte seine

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