Unheilvolle Minuten (German Edition)
und seinen Gefolgsleuten unterwegs war.
Zwei Tage lang trug er den Briefumschlag mit dem Scheck in der Innentasche seiner Jacke mit sich herum. Ging zu mehreren Briefkästen, kontrollierte die Leerungszeiten, die innen auf der Klappe standen, und wog dabei den Brief in der Hand. Zuletzt schickte er den Scheck dann doch nicht ab. Warum sollte sein Vater so ungeschoren davonkommen, ohne für seine Freiheit zahlen zu müssen? Warum sollte er für das, was er getan hatte, nicht zahlen, und sei es auch nur ein bisschen? Fünfundzwanzig Dollar war schon wenig genug. Ein günstiger Handel.
Der Rächer staunte darüber, wie leicht es war, zwei Morde zu begehen und damit davonzukommen. Bei jedem Mord lernte er etwas Neues. Beim ersten Mal, als er Vaughn Masterson umgebracht hatte, war ihm aufgegangen, wie wichtig das Motiv war – oder vielmehr das Fehlen eines Motivs. Beim zweiten Mal lernte er, dass man keine Waffe brauchte, dass man auch ohne Revolver oder Messer jemanden umbringen konnte. Natürlich brauchte man eine günstige Gelegenheit. Und manchmal musste man warten, bis diese Gelegenheit kam. Oder, wie es bei seinem zweiten Mord der Fall war, die Gelegenheit ergab sich ganz von allein, ohne dass man selbst so recht wusste, dass man jemanden umbringen wollte. Das war eine weitere Lektion, die er lernte: Sei auf Zack, bleib immer wachsam, jederzeit bereit, eine Gelegenheit am Schopf zu packen, wenn sie sich ergibt.
So wie es mit seinem Großvater passiert war.
Er hatte nicht vorgehabt, seinen Großvater an diesem Samstagnachmittag umzubringen. Tatsächlich war er ihm sogar aus dem Weg gegangen, aus Angst vor weiteren Fragen nach dem Revolver. Sein Großvater besuchte den Rächer und seine Mutter ein- oder zweimal in der Woche, weil er wusste, dass die Mutter oft einsam war. Der Vater des Rächers hatte die Stadt schon vor langer Zeit verlassen, ohne Abschied und ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Seine Mutter glaubte nicht, dass er sie im Stich gelassen hatte, und sie glaubte auch nicht, dass er auf kriminelle Weise oder bei einem Unfall ums Leben gekommen war. Sie glaubte, dass er sein Gedächtnis verloren hatte.
Sie stellte sich vor – und der Rächer machte es genauso –, wie er die Welt durchstreifte, auf der Suche nach dem Weg nach Hause. Sein Foto stand auf dem Fernseher und das Gesicht seines Vaters war im Gedächtnis des Rächer unauslöschlich eingebrannt. Er suchte jeden Tag nach seinem Vater, musterte die Gesichter aller Männer, die er auf der Straße traf. Bis jetzt hatte er ihn jedoch noch nicht gefunden.
Wenn sein Großvater zu Besuch kam, brachte er leckere Sachen zum Essen mit und manchmal Blumen für seine Mutter. Er nannte die Mutter des Rächers Tochter , obwohl sie nicht seine Tochter war. Sie setzten sich hin und sahen fern, alle Serien, die es gab, und danach machten sie den Fernseher aus, und sein Großvater erzählte von früher, von seinen Erlebnissen als Streifenpolizist oder von damals, als »Donnie«, der Vater des Rächers, noch ein Junge war.
»In letzter Zeit krieg ich dich nicht mehr oft zu sehen, Kleiner«, hatte sein Großvater bei seinem letzten Besuch gesagt. Er sagte oft Kleiner zu ihm.
»Hab viel zu tun«, sagte der Rächer, und die Hitze stieg ihm ins Gesicht. »In der Schule. Oder ich helfe Mom.« Das stimmte auch. Der Rächer ging seiner Mutter immer zur Hand. Erledigte seine täglichen Pflichten, ohne dass man ihm das erst sagen musste. Machte Besorgungen. In letzter Zeit hatte er sich verdrückt, wenn sein Großvater kam. Manchmal war er schon aus dem Haus, wenn der alte Mann eintraf, oder er machte sich so bald wie möglich davon.
»Das macht mir zu schaffen, Kleiner«, sagte sein Großvater, »dass du dauernd davonrennst.« Und einen Augenblick lang tat ihm der alte Mann leid. Ihm wurde bewusst, dass er seit einiger Zeit richtig alt aussah, mager und zerbrechlich.
»Tut mir leid, Gramps«, sagte er. Und es tat ihm auch wirklich leid. Er bedauerte, dass die Umstände seinen Großvater zu seinem Feind gemacht hatten, jemand, vor dem er auf der Hut sein musste.
»Er ist so ein lieber Junge«, sagte seine Mutter mit ihrer dünnen Stimme. »So rührend um mich besorgt …«
»Ich weiß, Ella, ich weiß«, sagte sein Großvater mit leiser, sanfter Stimme. Aber seine Augen waren nicht sanft. Wenn der Rächer hochschaute und dem alten Mann in die Augen sah, glitzerten sie gewitzt. Sie musterten ihn, drangen ihm bis ins innerste Mark. Der Rächer schaute dann
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