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Unheilvolle Minuten (German Edition)

Unheilvolle Minuten (German Edition)

Titel: Unheilvolle Minuten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Cormier
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normaler Mensch?«
    Er betrachtete den nassen Scherbenhaufen auf dem Fußboden. Damit stand es unentschieden.
    »Hör mal«, sagte sie versöhnlich, »ich möchte doch nur reden. Ist das zu viel verlangt? Ich hab auch ein Geschenk für dich. In meinem Zimmer.« Sie trat einen Schritt zurück, in den Flur. »Bitte«, sagte sie, und ihre Stimme wackelte kläglich.
    Widerstrebend, aber neugierig ging er hinter ihr her, als sie ihn nach oben zu ihrem Zimmer führte, die Tür aufmachte und ihn mit einer Handbewegung hereinbat. Sie zeigte auf die Kommode, wo eine schimmernde Ginflasche stand, mit einem Glas daneben.
    »Bedien dich«, sagte sie. »Von mir für dich.«
    Sein erster Gedanke war, dass auch Addy soff, ihre eigenen Geheimnisse hatte. Aber gleich darauf wurde ihm klar, dass das nicht sein konnte. Nicht bei Addy; bei jedem anderen, aber nicht bei Addy.
    »Nein, die Flasche gehört nicht mir«, sagte sie. »Ich würde das Zeug um nichts auf der Welt trinken. Wie ich an die Flasche gekommen bin, spielt keine Rolle. Das ist mit Bestechung gegangen, über den Freund einer Freundin. Aber ich habe die Flasche für dich besorgt, und das ist wiederum Bestechung. Damit wir reden. Wenn du schon trinken musst, dann tu es hier bei mir. Und nicht allein. Ich halte es nicht mehr aus, in diesem Haus allein zu sein.«
    Mit einem Mal hatte er kein Bedürfnis mehr nach einem Drink. Es war lachhaft, aber ihm wurden die Augen feucht, und er fummelte in seiner Tasche herum, ob sich dort irgendwo ein Papiertaschentuch herumtrieb. Sah, was für ein jämmerliches Paar sie geworden waren. Bruder und Schwester – der Bruder ein Säufer, und die Schwester, einsam und verlassen, treibt eine Flasche Gin auf, um mit ihm ins Gespräch zu kommen.
    »Wir müssen etwas tun, Buddy«, sagte sie. »So können wir nicht weitermachen. Die Unterlassungssünden – weißt du noch?«
    Buddy schüttelte den Kopf, konnte sich nicht erinnern. Er hatte nur eine vage Erinnerung an den Religionsunterricht montagabends im Keller der St.-Dymphna-Kirche. Der alte Father O’Brien hatte den Unterricht abgehalten, die Bibel erklärt und die Zehn Gebote und solche Sachen. Buddy hatte kaum hingehört. Der Montag war ein verrückter Zeitpunkt für Abendkurse, weil man montags ohnehin einen Riesenhaufen Schularbeiten aufgehalst bekam. Seine Mutter bestand jedoch darauf, dass Addy und er daran teilnahmen. »Ihr Gewissen macht ihr zu schaffen«, mutmaßte Addy. Ihre Mutter war katholisch und ihr Vater Presbyterianer, falls er überhaupt etwas war. Er machte sich nur selten die Mühe, zur Kirche zu gehen. Ihre Mutter trieb sie jedoch sonntags zur Messe und montagabends in die Christenlehre. Erst in den letzten zwei oder drei Jahren schien sie den Religionsunterricht aufgegeben zu haben, aber Addy und Buddy mussten am Sonntagmorgen nach wie vor den endlosen Gottesdienst absitzen. Oder manchmal am Samstagabend. Die Samstagabende waren noch schlimmer als die Sonntagvormittage.
    »Eine Unterlassungssünde ist die Sünde, nichts getan zu haben«, sagte Addy jetzt in ihrer neunmalklugen Art. »Ich finde zum Beispiel, dass es nur deshalb zu Kriegen kommt, weil irgendwo jemand ist, der das nicht verhindert hat. Und wir tun nichts, um das zu verhindern, was mit Mom und Dad vor sich geht.«
    »Aber was können wir schon tun?«, fragte er, schaute sie auch jetzt nicht an. Seine Augen waren immer noch feucht, und er konzentrierte sich auf das Fenster und den gelben Plastikschmetterling, den Addy dort angebracht hatte, um ein Loch in der Jalousie zu verdecken.
    »Ich weiß nicht. Aber lass uns darüber reden. Über die Möglichkeiten.«
    An dieser Stelle wurde ihm klar, dass Addy im nüchternen Zustand von Möglichkeiten träumte, während er sich nur unter Alkoholeinfluss solchen Träumen hingab. »Okay, reden wir …«
    »Brauchst du erst was zu trinken?«, fragte sie.
    Das Wort brauchen gab ihm einen solchen Stich, dass er zusammenzuckte. War das sarkastisch gemeint? Dann sah er ihr Gesicht und kam zu dem Ergebnis, dass sie es ehrlich meinte.
    »Nein«, sagte er und freute sich darüber, Nein sagen zu können. »Lass mal hören, was du für Möglichkeiten siehst.«
    Addy warf sich bäuchlings aufs Bett, das Kinn in die Hände gestützt, während Buddy ans Fenster trat und in den Garten hinterm Haus hinaussah. Der alte Picknicktisch hätte neu gestrichen werden müssen und der Grill rostete vor sich hin. Die Familienmahlzeiten da draußen waren jetzt nur noch eine verschwommene

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