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Unheilvolle Minuten (German Edition)

Unheilvolle Minuten (German Edition)

Titel: Unheilvolle Minuten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Cormier
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als sie sich unter Schubsen und Drängeln einen Weg ins Schulhaus bahnten. In seinem Schließfach war eine kleine Flasche Gin versteckt, die er für Notfälle dort verwahrte. Ob ihm genug Zeit blieb, um ein paar verstohlene Schlucke daraus zu nehmen? Er tastete in der Jackentasche nach den Pfefferminzbonbons. Trotz der dröhnenden Kopfschmerzen und des unangenehmen Gefühls im Magen war er dringend darauf angewiesen, dass ihm der Gin die Anspannung und Angst minderte, während er darauf wartete, dass die Polizei kam und ihn ins Gefängnis warf.
    Am Abend schoss er erschrocken hoch, als es in seinem Zimmer an der Tür klopfte. Die Bullen, dachte er. Als er widerstrebend die Tür öffnete, stand seine Mutter mit grimmigem Gesicht vor ihm. »Kann ich dich mal sprechen, Buddy?« Sie weiß Bescheid, dachte er, und die Hitze stieg ihm ins Gesicht, wie sichtbar gewordene Scham. »Addy wartet bei mir im Schlafzimmer …«
    Er folgte ihr dorthin, fand Addy auf einem zierlichen Stuhl vor dem Frisiertisch seiner Mutter vor. Sie warf ihm einen neugierigen Blick zu, als wollte sie sagen: Nein, ich weiß auch nicht, worum es geht.
    Die Hände in die Seiten gestemmt, hielt seine Mutter die Schultern so steif, als müsste sie strammstehen. Sie holte tief Luft und sagte dann: »Ich habe vor, für ein paar Tage wegzufahren …«
    Buddy taumelte gegen die Wand. Wie eine Woge durchflutete ihn die Erleichterung, so als hätte er Fieber gehabt, das plötzlich weg war. Dann aber überkam ihn Panik und er fragte sich: Verlässt sie uns jetzt auch? Er sah zu Addy hin, fand in ihren Augen jedoch keine Antwort.
    Als hätte sie seine Gedanken gelesen, sagte seine Mutter: »Nein, ich ziehe nicht aus oder mach mich sonst wie davon. Und ich fahre auch nicht in Urlaub. Ich möchte an Exerzitien teilnehmen …«
    Das Wort löste eine vage Erinnerung bei Buddy aus, irgendwas mit Religion und Gebet. Aber er stellte trotzdem die Frage: »Was sind Exerzitien?« Und kam sich sofort blöde vor, so wie stets, wenn er in ein Gespräch mit seiner Mutter und Addy verwickelt war.
    »Das ist eine Zeit, die man mit Meditation und Gebet verbringt, meistens in einem Kloster«, erklärte Addy, aber nicht in ihrer neunmalklugen Art; diesmal wollte sie nur behilflich sein.
    »Genau«, sagte ihre Mutter. »Es handelt sich um fünftägige Exerzitien an einem langen Wochenende, Freitag bis Dienstag, in einem Kloster südlich von Worcester.« Sie sank aufs Bett hinunter. »Ich muss mit mir wieder ins Reine kommen. Ich meine, ich habe die ganze Zeit über nur noch mechanisch funktioniert, bei der Arbeit ebenso wie zu Hause bei euch. Während der Exerzitien habe ich Zeit zum Nachdenken. Zum Meditieren und Beten. Es wird auch Beratung angeboten. Ich werde mit Frauen aus allen Lebensbereichen zusammen sein.«
    »Ist ja toll, Mom«, sagte Addy aus tiefstem Herzen.
    Und Buddy plapperte das Wort nach: »Toll.« Versuchte, etwas Begeisterung hineinzulegen.
    »Sollst mal sehen, wie gut wir zurechtkommen«, sagte Addy. »Wir stopfen uns mit Tiefkühlkost voll, lassen uns schönen chinesischen Papp ins Haus bringen und ich kann meine Spezialitäten machen …«
    »Hackbraten und vorgebratene Hähnchen«, sagte Buddy, wies sie scherzhaft in ihre Schranken, wollte teilhaben an ihrer Fröhlichkeit und an dem Entschluss seiner Mutter. Gleichzeitig schaute er seine Mutter prüfend an, versuchte sie nicht als seine Mutter, sondern als Frau zu sehen. Eine von Sorgen geplagte, unglückliche Frau. Sah das kleine Netzwerk aus Falten um ihre Augen, die schmalen, nach unten gezogenen Lippen. Waren ihre Lippen schon immer so schmal gewesen? Hatte sie schon immer so ausgesehen? Was er sah, war so traurig, dass er den Blick von ihr abwandte. Seit dem Auszug seines Vaters war seine Mutter nur noch der Schatten ihrer selbst gewesen, eine bloße Erscheinung im Haus, ohne Substanz. Jeden Tag hatte er sich beim Aufwachen vorgenommen: Heute rede ich mit ihr, frage sie, wie es ihr geht, wie es ihr wirklich geht, wir werden die höflichen Tischgespräche beiseite lassen und mit offenen Karten spielen. Aber im Verlauf des Tages, wenn der Alkohol ihn im Griff hatte, löste sich dieser Schwur in Luft auf. Seine Mutter blieb bei Tisch geistesabwesend und fern, obwohl sie redete – und wie sie redete! Aber nur mechanisches Gerde. Sie sprach von der Arbeit und erkundigte sich nach der Schule, ohne jedoch die Antworten aufzunehmen; war mit anderen Dingen beschäftigt.
    »Wisst ihr, Kinder«, sagte sie

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