Unheilvolle Minuten (German Edition)
Die Art, wie ihr Körper sich beim Gehen bewegte. Das wippende Haar. Sie hatte es hinten am Kopf zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der beim Gehen sacht auf und ab wippte. Er mochte ihren Nacken, die weiße Haut, die zwischen den Haarsträhnchen hervorblitzte. Warum bekomme ich bei ihr so ein Gefühl, als hätte ich Fieber?, fragte er sich. Sie ist doch nur ein Mädchen.
Sie betrat einen Laden, war nicht mehr zu sehen, und der Rächer war sowohl erleichtert als auch traurig.
In der Nacht träumte er vom Einkaufszentrum. Träumte, dass er hindurchging, als wäre es ein Museum, ganz in Schwarz und Weiß, und die Jugendlichen standen wie Statuen herum. Statuen mit großen Augen, die ihn anstarrten. Ihm folgten, wenn er vorbeiging. Als er aufwachte, schwitzte er. Und war entmutigt. Das war ungewöhnlich, denn der Rächer gestattete es sich sonst nie, entmutigt zu sein. Aber all diese Nachmittage im Einkaufszentrum waren ohne Ergebnis geblieben. Vielleicht stammten die Zerstörer nicht aus der Umgebung von Wickburg. Vielleicht kamen sie aus Städten wie Boston oder Providence. Zu weit weg. Stöhnend wälzte er sich im Bett hin und her. Wie konnte er sie in Boston aufspüren? Oder halt – vielleicht waren sie ja nur auf Tauchstation gegangen. Ließen sich nicht blicken. Vielleicht hatten sie einen Verdacht, dass der Rächer sie an jenem Abend gesehen hatte, und hielten sich daher von öffentlichen Orten fern. Das wäre eine Erklärung. Und es bedeutete, dass er sich wieder in Geduld üben musste. Ausschau halten und warten. Bis der rechte Augenblick gekommen war. Auf die Mittel warten und auf die Gelegenheit. Das hatte auch früher schon funktioniert. Bei Vaughn Masterson und seinem Großvater. Es würde wieder funktionieren. Er war der Rächer, und dem Rächer misslang nie etwas.
Er schlief ein, und diesmal hatte er schöne Träume, konnte sich allerdings nicht mehr an sie erinnern, als er morgens aufwachte.
»Sie haben ihn«, verkündete ihr Vater, als er ins Haus kam und seine Aktentasche auf dem kleinen Tischchen an der Haustür abstellte.
Jane und ihre Mutter kamen die Treppe aus dem Obergeschoss herunter und sagten gleichzeitig: »Wen haben sie?« Wie bei einem komischen Sketch im Fernsehen.
Aber es war überhaupt nicht mehr komisch, als ihnen blitzartig aufging, wer gemeint war.
»Einen der Täter«, sagte ihr Vater. »Den Anführer.«
»Wer war es?«, fragte Jane, wartete mit merkwürdigem Widerstreben auf die Antwort. Sie hatte Angst, es könnte jemand sein, den sie kannte, ein Klassenkamerad aus Burnside, jemand, den sie für einen Freund gehalten hatte. Und das wäre noch schlimmer als ein Fremder.
»Ein Junge namens Harry Flowers. Lebt in Wickburg. Geht in die Abschlussklasse der Wickburg Regional Highschool.«
Als ihr Vater sprach, merkte Jane, dass etwas nicht in Ordnung war. Aber was? Die Worte stimmten. Seine Sprechweise – schnell, wie es seine Art war – stimmte ebenfalls. Aber da war noch etwas anderes, was ganz und gar nicht stimmte.
»Wie hat man ihn geschnappt?«, fragte ihre Mutter.
»Du kennst doch Jack Kelcey, der um die Ecke im Vista Drive wohnt? Er ist gerade erst von einer Geschäftsreise an die Westküste zurückgekommen. War fast einen Monat weg und wusste nichts von dem Überfall. Als seine Frau ihm davon erzählte, fiel ihm ein, dass er damals am Abend ein Auto auf der Straße gesehen hat. Er wurde misstrauisch und schrieb sich tatsächlich das Kennzeichen auf. Für alle Fälle. Er ist ein Mensch mit System, führt ein kleines Notizbuch, in dem er alles aufschreibt. An den Wagen hat er dann nicht mehr gedacht, bis er wieder nach Hause kam und das mit Karen und dem Haus erfuhr …«
Es stimmt noch immer was nicht, dachte Jane.
»Das Kennzeichen führte die Polizei nach Wickburg. Zu einem bekannten Architekten. Winston Flowers, entwirft teure Eigentumswohnungen. Der Täter ist sein Sohn …« Ihr Vater lockerte seine Krawatte. »Der Junge gibt die Beschädigungen zu. Aber er leugnet, Karen angefasst zu haben. Sagt, sie sei die Treppe hinuntergefallen. Außerdem sagt er, dass er allein im Haus war, niemand sonst mit dabei.«
Ihre Mutter sank auf der untersten Treppenstufe nieder. »Aber die Polizei meinte doch, es müssten mindestens drei oder vier gewesen sein«, sagte sie.
Jetzt wusste Jane, was nicht in Ordnung war.
»Er sagt aus, er wäre allein gewesen. Auch wenn das ganz offensichtlich eine Lüge ist«, sagte ihr Vater. »Vermutlich lügt er auch, wenn er
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