Unheilvolle Minuten (German Edition)
und seine Fingerknöchel nicht mehr gegen die Scheibe schlagen. Und strengte seinen Grips an. Aber der Grips klemmte, wollte nicht so recht funktionieren. Der Rächer machte die Augen zu, ließ sich vom Rattern und Rumpeln des Busses tragen. Ihm graute davor, darüber nachzudenken, was Jane von ihm halten würde, wenn sie wüsste, dass er versagt hatte, dass es ihm nicht gelungen war, die Täter zu finden.
Traurigkeit trat an die Stelle von Zorn. Trauer, weil er bei den Jeromes nicht mehr spionieren konnte. Dabei hatte er sich nie als Spion empfunden. Er war ein Beobachter gewesen. Durch die Beobachtung hatte er zur Familie gehört. Aber seit das Gebüsch jetzt gänzlich verschwunden war und man die Äste der alten Eiche zurückgeschnitten hatte, sah das Haus nackt aus, der ganzen Welt preisgegeben. Keine Verstecke mehr, von denen aus er die Familie betrachten konnte.
Während der monatelangen Beobachtung hatte sich die Liebe zu ihnen entwickelt. Aus diesem Grund hatte er all das getan. Aus dieser Liebe heraus. You always hurt the one you love . Das war ein Lied, das seine Mutter immer sang. Ein altes Lied. Man tut immer dem weh, den man liebt. Das war sozusagen ihr Motto. Wenn sie die Geduld verlor und ihn bestrafte, hallte dieser Satz in seinem Kopf wider. Es ist nur zu deinem Besten, pflegte sie zu sagen. Und er dachte dann: You always hurt the one you love. Als er die Jeromes zu lieben begann, war ihm daher klar, dass er ihnen wehtun musste, um ihnen seine Liebe zu zeigen. Obwohl es ihm sehr zu schaffen machte, diese Dinge zu tun. Zum Beispiel im Garten Mrs Jeromes Tomatenpflanzen auszureißen. Das tat nicht nur ihr weh, sondern auch ihm, denn er sah es so gerne, wie diese tapferen, hübschen Pflanzen sich sonnten. Oder ihnen ein totes Eichhörnchen in den Briefkasten zu stecken. Der Rächer hatte das Eichhörnchen nicht getötet – er hatte es am Straßenrand gefunden, offensichtlich von einem Auto angefahren. Er würde nie ein hilfloses Tier umbringen, schon gar nicht ein so kleines.
Sein Zorn war jetzt weg, und als der Bus die Innenstadt von Wickburg verließ und zu den Außenbezirken fuhr, wo Burnside ihn erwartete, verschwand auch die Trauer. In ihm war nichts als große Leere. Wie Hunger, nur hatte es nichts mit Essen zu tun. Ein Hunger nach – was? Nach Handeln. Etwas tun.
Die alte Frau war nicht mehr im Bus – er hatte ihr Aussteigen nicht bemerkt – und jetzt saß eine junge Frau auf dem Sitz vor ihm. Sie hielt ein kleines Baby im Arm. Das Baby wurde ein wenig unruhig und die junge Frau hob es hoch und legte es an die Schulter. Von dort schaute das Baby ihn an. Es fing an zu schreien, das Gesicht unter der Mütze ganz verzerrt. War es ein Junge oder ein Mädchen? Das konnte der Rächer nicht beurteilen. Aber er wollte, das Baby würde damit aufhören, ihn anzustarren und zu schreien.
Er schaute weg, zum Fenster hinaus, zu den Häusern mit ihren Rasenflächen und den Autos in der Auffahrt. Das Baby hörte auf zu schreien, aber als der Rächer wieder zu ihm hinsah, schaute es ihn immer noch an. Verfügten Babys über besondere Kräfte, hatten sie Macht über jemanden, den sie ansahen? Das war natürlich lächerlich. Aber wer konnte schon wissen, was ein Baby dachte? Dieses Baby hatte dunkle Augen, so wie der Wachmann im Einkaufszentrum. Mit diesen dunklen Augen schaute das Baby ihn an, das Gesicht so zerknittert wie eine zerknüllte Papiertüte. Dem Rächer gefiel es nicht, wie das Baby ihn anstarrte, und er schaute wieder zum Fenster hinaus. Außerdem packte ihn wieder der Zorn. Zorn auf das Einkaufszentrum, das er immer gehasst hatte und jetzt noch mehr hasste, weil die Täter nicht dort hingegangen waren. Zorn auch auf das Baby, das ihn so anstarrte. Und die Mutter des Babys achtete gar nicht darauf. Ob die Mutter wohl achtsamer würde, wenn er dem Baby etwas tat?
Der Bus machte einen Satz, als er über einen Hubbel in der Straße fuhr, und blieb dann stehen. Die Türen zischten auf und schlossen sich wieder, und die junge Frau stand auf. Sie stieg nicht aus, sondern setzte sich auf einen anderen Platz, weiter vorn im Bus, an der Tür. Immer mit der Ruhe, hielt sich der Rächer vor, lass dich nicht vom Zorn übermannen. Aber warum hatte sie sich woanders hingesetzt? Verfügte die Mutter des Babys ihrerseits über geheime Kräfte? Hatte sie die Gedanken lesen können, die der Rächer gehegt hatte, als er hinter ihr saß? Wieder schaute er aus dem Fenster, schlug mit den Fingerknöcheln
Weitere Kostenlose Bücher