Unheilvolle Minuten (German Edition)
sagt, dass er Karen nicht angerührt hat.« Ihr Vater zögerte, zerrte immer noch an seiner Krawatte herum. »Die Sache ist die – die Polizei hat gegen ihn nicht viel in der Hand.«
»Nicht viel in der Hand?«, sagte ihre Mutter. Sie stand von der Stufe auf, ihre Stimme war vor Zorn ganz schrill geworden. »Karen im Koma, die Verwüstung im Haus, Mr Kelcey, der seinen Wagen gesehen hat, und sein Geständnis, dass er hier war. Was braucht die Polizei denn sonst noch?«
Ihr Vater runzelte die Brauen. Schweiß glitzerte ihm auf der Stirn, sein Gesicht war gerötet. Er klopfte die Taschen ab, als suchte er nach Zigaretten; dabei rauchte er schon seit Jahren nicht mehr.
»Die Polizei muss sich an die Beweise halten«, erklärte ihr Vater. »Es gibt keinen eindeutigen Beweis, dass er Karen angefasst hat. Der Junge leugnet es, und Karen kann nicht gegen ihn aussagen. Es gibt keine Beweise, dass er nicht allein war. Es gibt auch keinen Beweis dafür, dass er gewaltsam ins Haus eingedrungen ist. Deshalb kann man ihn auch nicht wegen Einbruchs belangen …«
Das war’s, was nicht stimmte. Seit ihr Vater ins Haus gekommen war, hatte er sie kein einziges Mal angesehen. Hatte nur ihre Mutter angesehen, so als wäre Jane gar nicht da, wäre nicht vorhanden.
»Dad …«, fing Jane an. Sie fröstelte plötzlich, so als stünde ein Fenster offen und ein kalter Wind strich über sie hinweg, verursachte ihr Gänsehaut.
Aber ihre Mutter fiel ihr ins Wort, immer noch empört, mit gerötetem Gesicht: »Wieso kann man ihn nicht wegen Einbruchs verhaften? Er war doch hier drin, oder etwa nicht? Er hat den Schaden doch zugegeben, oder?«
»Es gibt keinen Hinweis auf gewaltsames Eindringen«, sagte ihr Vater langsam. Er sprach mit Bedacht und betonte jedes einzelne Wort, so als schriebe er etwas an die Tafel.
»Was soll das denn heißen?«, fragte Janes Mutter.
Ein Schatten glitt durch Jane hindurch.
»Es heißt«, sagte ihr Vater und sah Jane immer noch nicht an, »dass er sich keinen gewaltsamen Zutritt verschaffen musste. Er brauchte kein Fenster einzuschlagen, keine Tür aufzubrechen.«
»Wie ist er denn sonst hereingekommen?«
Schau mich an, hätte Jane am liebsten losgeschrien. Warum schaust du mich denn nicht an? Aber sie blieb stumm stehen, voll böser Vorahnungen, eine Fremde im eigenen Haus.
»Weil er einfach hereinspaziert ist«, sagte ihr Vater. Seine Stimme klang rau und trocken, als hätte er Halsschmerzen. »Er hatte einen Schlüssel. Hat den Schlüssel ins Schloss gesteckt, die Tür aufgemacht und ist hereinspaziert.«
»Ein Schlüssel zu diesem Haus? Zu unserem Haus? Wie, um Gottes willen, ist er denn an einen Schlüssel gekommen?«
Zum ersten Mal, seit ihr Vater nach Hause gekommen war, sah er Jane an. Sah ihr direkt in die Augen, und in seinen eigenen Augen flammte – was? Zorn? Mehr als Zorn. Sie suchte nach dem richtigen Wort und zu ihrem Entsetzen fand sie es auch. Schuldzuweisung. Das war’s, was sie in seinen Augen las. Anklage.
»Er sagt, dass Jane ihm den Schlüssel gegeben hat.« Mit tonloser Stimme, die Stimme eines Fremden.
Irgendwo in der Nachbarschaft surrte ein Rasenmäher, und sie stand da, Jane Jerome, in der Eingangshalle bei sich zu Hause, mit ihrer Mutter und ihrem Vater – und mit einem Mal wusste sie, wie es war, wenn die Welt unterging.
2. Teil
Als Buddy am nächsten Morgen vor der Schule aus dem Bus stieg, wartete Marty Sanders auf ihn. In Buddys Kopf dröhnte ein dumpfer Schmerz und die Augen brannten von der Morgensonne. Er verzog das Gesicht, als Martys Nebelhornstimme ihn begrüßte: »Verkatert?« Falsches Mitgefühl im Blick.
Buddy machte sich gar nicht erst die Mühe, ihm zu antworten. Am Schultor sah er Randy Pierce herumlungern, so nichtssagend wie eh und je, als wartete er darauf, dass ihm jemand einen Ausdruck ins Gesicht malte.
Marty zog Buddy beiseite und sprach aus dem Mundwinkel heraus, wie der Schurke in einem billigen alten Krimi. »Schlechte Nachrichten, Buddy.«
Die anderen Schüler strömten vorüber. Ein Junge rammte Buddy mit dem Ellbogen. Der Bus stieß stinkende Abgase aus.
Buddy versuchte abzuschätzen, welcher Art die schlechte Nachricht war. Dabei kam ihm ein Name in den Sinn. Harry Flowers. Das dumpfe Dröhnen in seinem Kopf verstärkte sich zu einem stechenden Schmerz, der seinen gesamten Schädel erfasste. Er blinzelte im Sonnenlicht, schaute zu Randy hin, dessen Gesicht nur noch ein Sonnenfleck war.
»Harry ist gestern in aller
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