Unheilvolle Minuten (German Edition)
nun, »vielleicht war ich ja nicht gerade die beste Ehefrau und Mutter, und zudem war ich eine schlechte Katholikin. Euer Vater hat sein Bestes getan. Als wir heirateten, hat er alle Bedingungen erfüllt, die von der Kirche gestellt wurden. War damit einverstanden, dass die Kinder katholisch erzogen werden. Nur habe ich irgendwann beschlossen, dass ihr euch selbst entscheiden sollt, wie ihr es mit der Religion haltet, was ihr sein wollt.«
Wann war das?, überlegte Buddy. Er wusste nur, dass an irgendeinem Punkt in seinem Leben seine Mutter nicht mehr in die Kirche gegangen war, und da hatten auch sie damit aufgehört. Und bereits vorher hatte sie nicht mehr darauf bestanden, dass sie in diesen langweiligen Religionsunterricht gingen. War das eine von Addys Unterlassungssünden?
»Ich muss etwas tun«, fuhr sie fort. Sie saß kerzengerade auf dem Bett, strich mit der Hand über die Tagesdecke. »Und irgendwo muss ich damit anfangen. Mir ist vor kurzem klar geworden, dass ich entweder einen Psychiater brauche oder Exerzitien. Vielleicht läuft es zuletzt auf beides hinaus.« Sie machte die Augen zu. »Ich will nichts als ein wenig Frieden.« Tränen quollen unter den geschlossenen Lidern hervor.
»Ach, Mom«, rief Addy und stürzte sich auf ihre Mutter, kniete sich auf den Boden und schlang die Arme um die Taille der Mutter. Buddy beneidete sie um ihre Zusammengehörigkeit. Beneidete seine Mutter, die den Frieden, den sie suchte, möglicherweise bei den Exerzitien finden würde. Beneidete Addy, die ihre Mutter so leidenschaftlich umarmen konnte und ebenso leidenschaftlich lebte, Stücke schrieb, alles Mögliche machte. Während er auf die Polizei wartete, auf die Schande, die er über sie alle bringen würde.
Aber die Polizei kam nicht.
Drei Tage später rief Harry kurz vor dem Abendessen an und sagte Buddy – fragte ihn nicht, sondern sagte ihm –, dass er ihn um acht abholen würde. »Es wird Zeit, dass wir mal reden«, sagte Harry, die Stimme trocken und klar, ohne die Spur eines Akzents.
Nachdem Buddy aufgelegt hatte, ließ er die Hand noch lange auf dem Hörer liegen.
Als der Rächer im Bus saß, auf dem Heimweg vom Einkaufszentrum, war er zornig, weinte schon fast – kein kindisches Geflenne, sondern Tränen der Ohnmacht und Enttäuschung. Er wusste, dass er nicht mehr ins Einkaufszentrum gehen würde, um nach den Tätern zu suchen. Er war es leid, nach ihnen Ausschau zu halten, zu schauen und zu schauen, ohne sie je zu sehen. Ein paar Minuten zuvor war einer der Sicherheitsbeamten auf ihn zugekommen, als er an der Rolltreppe stand und sich bemühte, keinen Verdacht zu erregen und so zu tun, als wartete er auf seine Mutter. Der Wachmann war alt, mit roten Flecken im Gesicht, die sich wie kleine Blumen auf seinen Backen abzeichneten, aber seine Augen waren dunkel und wach. Er sprach nicht mit dem Rächer, stellte sich aber dicht neben ihn. Zu dicht. Wenn der Rächer sich bewegte, ging der Wachmann mit. Der Rächer wusste nicht, ob das zufällig geschah oder ob der Wachmann nicht wollte, dass er sich im Einkaufszentrum aufhielt. Schließlich war der Rächer durch die Drehtür gehuscht und wusste dabei schon, dass er nicht mehr ins Einkaufszentrum zurückkehren würde. Drei Wochen lang war die Suche ein Misserfolg gewesen, hatte keinen einzigen der Täter aufgestöbert.
Während der Bus die Main Street entlangrumpelte, überlegte der Rächer seinen nächsten Schachzug. Vielleicht sollte er damit anfangen, die Highschools abzuklappern. Er wusste jedoch, dass sich das kaum bewerkstelligen ließ. Viele Schulen in der Gegend. Zu viele. Warum waren die Täter nicht im Einkaufszentrum aufgekreuzt, wie es Hunderte von anderen Jugendlichen taten? Er schlug mit der Faust gegen die Fensterscheibe, bis ihm die Fingerknöchel wehtaten und eine alte Frau in der Sitzreihe vor ihm sich umdrehte und ihn mit einem finsteren Blick bedachte. Sie trug eine Brille mit dicken Gläsern, die ihre Augen noch größer erscheinen ließen. Düster schaute der Rächer aus dem Fenster, betrachtete im Vorbeifahren die Geschäfte. Kam sich hilflos vor, unfähig, seine Rachepläne durchzuführen. Zorn regte sich in ihm. Er trommelte mit den Hacken auf den Boden, und die alte Frau zog die Schultern hoch und warf wieder einen Blick zu ihm nach hinten. Ihm wurde bewusst, dass er mit dem Knie gegen die Rückenlehne ihres Sitzes gestoßen war.
Mit aller Kraft hielt er sein Knie im Zaum, ließ seinen Fuß nicht mehr auf den Boden trommeln
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