Unheilvolle Minuten (German Edition)
das Telefon klingelte, war sie daher nicht so aufgeregt gewesen wie damals, als sie in Timmy Kearns so blödsinnig verknallt gewesen war, und zu der Zeit ihrer Freundschaft mit Patti und Leslie.
»Spricht da Jane Jerome?«, fragte die Stimme. Eine Jungenstimme, irgendwie außer Atem, als hätte er einen Langstreckenlauf hinter sich.
»Ja«, sagte sie. »Wer spricht da?« Ein leichtes, furchtsames Beben in der Stimme. Ich sollte auflegen. Seit dem Überfall lauerte hinter ganz alltäglichen Dingen die Angst, ganz egal ob es an der Tür klingelte, sich ein fremdes Gesicht auf der Straße zeigte oder ob jemand in der Schlange an der Kasse im Supermarkt sie anzustarren schien. Und jetzt diese unbekannte Stimme am Telefon.
Sie wollte schon auflegen, als ein leises Seufzen durch die Leitung kam, so ein Seufzer, wie ihn ein Kind am Ende eines langen, anstrengenden Tages von sich gibt. Und nach dem Seufzer dieselbe Stimme, jetzt sanft und voller Mitgefühl. »Was passiert ist, tut mir so leid.«
Lange Pause.
Völlig überrumpelt betrachtete sie das Telefon, als könnte es ihr eine Antwort auf die Frage geben, wer der Anrufer war. Dann drückte sie den Hörer ans Ohr, gerade noch rechtzeitig, um zu hören, wie die Verbindung abbrach, gefolgt vom Freizeichen.
Mit zitternder Hand legte sie den Hörer auf.
Einen Augenblick lang blieb sie unentschlossen stehen, versuchte ihre Gedanken zu ordnen. In letzter Zeit herrschte in ihrem Kopf ein heilloses Durcheinander, als hätte ihr Gehirn einen Kurzschluss gehabt. Blöde Vorstellung, natürlich, aber sie wusste keinen anderen Ausdruck, um das zu beschreiben, was mit ihr vorgegangen war – was jetzt mit ihr vorging.
Sie trat ans Fenster und zwinkerte, als die Sonnenstrahlen ihr direkt ins Auge fielen. Eigentlich müsste es ja regnen, passend zu ihrer Stimmung. Ihrer düsteren Stimmung. Sie wandte sich vom Fenster ab, kreuzte die Arme vor der Brust und schaute trübsinnig die Möbel in ihrem Zimmer an, ein Stück nach dem anderen. In letzter Zeit fiel es ihr schwer, sich überhaupt im Haus aufzuhalten. Eine Zeit lang war es ihr schwergefallen, allein im Haus zu sein, und sie war davor geflohen. Jetzt war es ihr schon fast unmöglich, sich im Haus aufzuhalten, selbst wenn ihre Familie um sie war. Wenn ihr Vater in ihre Richtung sah, schrumpfte sie unter seinem Blick ein wenig zusammen. Wenn er sie an der Schulter berührte oder ihre Wange mit einem Gutenachtkuss streifte, konnte sie nicht darauf reagieren. Dabei wusste sie, dass das falsch war. Aber was er getan hatte, sein Zweifel an ihr, war auch falsch. Ich muss darüber hinwegkommen, hielt sie sich vor. Konnte es aber nur schwer in die Tat umsetzen. Sie sagte sich immer wieder, dass nicht ihr Vater der Schurke war. Dieser Kerl, der Harry Flowers hieß, hatte gelogen, hatte ihren Vater dazu gebracht, an ihr zu zweifeln.
Harry Flowers. Sie machte sich Gedanken um ihn. Wie sah er aus? War er groß oder klein? Dick oder dünn? Was für ein Mensch war er? Was für ein Mensch tat so etwas Schreckliches, Widerliches? Sie versuchte, vor ihrem geistigen Auge ein Bild von ihm entstehen zu lassen, sah aber nur ein furchterregendes Nichts. Furchterregend, weil sie ihm vielleicht schon begegnet war, auf der Straße, bei einem Schulball, im Einkaufszentrum – ohne davon zu wissen. Wenn sie im Einkaufszentrum umherschlenderte, schaute sie sich neugierig die verschiedenen Jungen an, die ihr begegneten. Fragte sich: Ob er das ist? Einmal fasste sie den Entschluss, sich künftig vom Einkaufszentrum fernzuhalten. Aber dann sagte sie: Nein. Sie würde ihr Leben nicht von Harry Flowers bestimmen lassen. Er hatte ihr schon Schaden genug zugefügt – an ihrem Zuhause, ihren Gefühlen für ihre Eltern, ihrem Leben.
Und jetzt dieser Anruf. Diese sanfte, weiche Stimme, voller Trauer und Reue. Irgendjemand da draußen, der mit ihr litt und versucht hatte, ihr seine Gefühle mitzuteilen. Aber warum tat er so geheimnisvoll? Warum hatte er sich nicht zu erkennen gegeben, ihr seinen Namen nicht genannt? War es – unmöglich – Harry Flowers gewesen? Der angerufen hatte, um sich zu entschuldigen?
Harry Flowers war in ihr Leben, ihre Gedanken eingedrungen. Der Anrufer konnte nicht er gewesen sein. Er hätte ihr keine solche Entschuldigung vorspielen können. Nicht der Harry Flowers, der so viel Unheil gestiftet hatte, Harry Flowers, Harry Flowers, Harry Flowers, dachte sie, als sie ins Obergeschoss lief, um sich eine Jacke zu holen. Sie wollte
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