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Unheilvolle Minuten (German Edition)

Unheilvolle Minuten (German Edition)

Titel: Unheilvolle Minuten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Cormier
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gewesen.
    Wie immer, wenn es um das andere Geschlecht ging, hatte er bei seinem Vorhaben restlos versagt. Dabei war er sich gar nicht so sicher, was er überhaupt vorgehabt hatte. Sich entschuldigen? Wohl kaum. Aber was sonst? Das wusste er nicht.
    Niedergeschlagen hatte er aufgelegt. Was immer er vorgehabt hatte – er war damit gescheitert, und er gab dem Alkohol die Schuld daran. Er hätte sie anrufen sollen, wenn er stocknüchtern war, glasklar (aber dann hätte er sich nicht getraut, nicht wahr?). Müde vom Denken und Saufen und seiner üblichen Unfähigkeit, war ihm nur noch eins geblieben: wieder zur Flasche zu greifen.
    Was er natürlich auch tat. Allerdings schaffte es der Alkohol nicht, das Gesicht des Mädchens aus seinem Gedächtnis auszulöschen. Aus seiner Erinnerung, die zu etwas ganz Schrecklichem geworden war.
    Er begann ihr nachzugehen. Verstieß gegen seine eigene Regel und fuhr mit dem Wagen seiner Mutter zur Schule, ohne Addys fragende Blicke zu beachten. Danach, voll Dankbarkeit dafür, dass die Wickburg Regional dreißig Minuten früher Schulschluss hatte als die Burnside Highschool, fuhr er nach Burnside und wartete auf Jane Jerome. Wenn sie auftauchte, folgte er ihr langsam, würgte den Wagen fast ab, während sie zum nahe gelegenen Krankenhaus ging, wo sie, wie er vermutete, ihre Schwester besuchte. Starr und steif saß er am Steuer und wartete darauf, dass sie wiederkam. Dabei versuchte er, nicht an Karen Jerome in ihrem Krankenhausbett zu denken. Ein paarmal hatte er im Krankenhaus angerufen, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Die Antwort war jedes Mal ein unpersönliches »unverändert – nichts Neues« gewesen.
    Jane Jerome hielt sich unterschiedlich lange im Krankenhaus auf, manchmal ein paar Minuten, manchmal eine Stunde, manchmal den gesamten Rest des Nachmittags. Wenn sie das Krankenhaus nach einem kurzen Besuch wieder verließ, wartete sie anschließend auf den Bus zum Einkaufszentrum von Wickburg. Buddy fuhr ihr dann voraus, parkte im angrenzenden Parkhaus und stand wartend an der Haltestelle, wenn der Bus die Fahrgäste, darunter auch Jane, am Eingang zum Einkaufszentrum ausspie.
    Während er ihr von einem Laden zum anderen folgte, versuchte er sich locker zu geben. Kaufte sich Zeitschriften, und wenn sie nur wenige Schritte entfernt an ihm vorbeiging, tat er so, als läse er in ihnen. Sie bummelte gemütlich umher, ohne etwas zu kaufen. Verharrte an bestimmten Ladentischen, blieb stehen, um die Kleider an einem Ständer durchzusehen. Buddy lernte, auf der Hut zu sein, einen gewissen Abstand zu halten. Bei Filene entdeckte er die Gefahr, die von Spiegeln mit Seitenspiegeln ausging. Unerwartet stieß er auf sein Spiegelbild und erschrak, als er sein Konterfei aus einem Dutzend verschiedener Blickwinkel eingefangen sah. Fast wäre er in Panik geraten. Ob sie ihn in einem der Spiegel entdeckt hatte und ihn jetzt an der Nase herumführte?
    Er floh aus dem Laden und setzte sich am trockenen Springbrunnen auf eine gelbe Plastikbank, die voller Schrammen war, mit abblätternder Farbe, als wäre sie krank. Als Jane wenige Minuten später aus Filene kam, spazierte sie Richtung Rolltreppe. Er sah ihr zu, wie sie zur zweiten Ebene hochfuhr, sah sie im zweiten Stock am Schutzgeländer entlanggehen. Ihr Kopf ließ sich kaum noch ausmachen. Nach einer Weile betrat er die Rolltreppe. Beim Hinauffahren sah er sie, wie sie ganz hinten im Gang in eine Buchhandlung ging.
    In der Buchhandlung entdeckte er die Vorzüge der Wahrnehmung am Rand des Gesichtsfelds: Man konnte Dinge sehen, ohne sie direkt zu betrachten. Er war in der Lage, am Tisch mit der Aufschrift Bestseller – 20% herabgesetzt ein Buch aufzuschlagen und dennoch aus den Augenwinkeln zu sehen, wie Jane drei Meter von ihm entfernt in Zeitschriften blätterte. Als sie eine Zeitschrift mit abschließender Geste zuschlug, konnte er sich denken, dass sie im Begriff war, den Laden zu verlassen. Er klappte sein Buch zu – ohne die geringste Ahnung, wie der Titel lautete und wovon es handelte – und ging vor ihr hinaus. Falls sie misstrauisch geworden war, müsste sie jetzt überzeugt sein, dass er sie nicht verfolgte.
    Vor dem New-Age- Kleiderladen ließ er sich auf ein Knie nieder, als wollte er sich die Schnürsenkel seiner Turnschuhe neu binden. Sah ihre Beine, als sie an ihm vorüberging. Er blieb in dieser Haltung, während sie an der Rolltreppe vorbeiging und ihren Weg zum Kaufhaus Marsh fortsetzte, im Eingang verschwand.

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