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Unheilvolle Minuten (German Edition)

Unheilvolle Minuten (German Edition)

Titel: Unheilvolle Minuten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Cormier
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Eine Weile wartete er, zählte langsam bis fünfhundert, und dann ging er ins Kaufhaus, spazierte aufmerksam durch die Abteilung Haushaltswaren und Einrichtung. Von Jane war nichts zu sehen. Er suchte die Abteilung Damenbekleidung und Sommerfreuden ab und schaute sogar noch in der Abteilung Männerbekleidung nach, bevor er zur Rolltreppe ging. Auf halbem Weg abwärts entdeckte er sie an der Parfüm-Theke, wo sie das Spray einer blauen Flasche ausprobierte. Als er von der Rolltreppe trat, war sie inzwischen zum Tisch mit den Tüchern gegangen und schlang sich ein rotes Tuch um die Brust, um es dann wie ein kleines, in sich zusammenfallendes Zelt auf den Tisch zurückgleiten zu lassen.
    Ein Hauch Parfüm wehte ihm in die Nase, als er an der Theke vorbeiging. Während er nach Jane Ausschau hielt, gab er sich Mühe, nicht so auszusehen, als hielte er nach ihr Ausschau. Seufzte ungeduldig, wurde sich mit einem Mal bewusst, wie absurd das war, was er da tat. Er spionierte, Himmel noch mal, spionierte einem Mädchen nach, das er nicht mal kannte. Konnte sie nirgends sehen – hatte sie sich hinter einem Schaukasten versteckt und beobachtete ihn in seiner Verwirrung? Er kam sich dumm vor, erkannte die Fruchtlosigkeit seines Tuns. Mit zappeligen Beinen stand er da, unentschlossen, schaute mit finsterer Miene auf die Uhr, tat so, als wartete er auf jemanden, der sich verspätet hatte. Wo war sie? Diese sinnlose Jagd. Aber es war nicht sinnlos. Er hatte viel über sie erfahren. Hatte in Erfahrung gebracht, dass sie gelangweilt war und rastlos und irgendwie auch traurig. Sie hatte kein einziges Mal gelächelt. Nichts von dem, was ihr begegnet war, hatte sie erheitern oder unterhalten können; das war ihr anzusehen gewesen. Sie ging umher wie eine Schlafwandlerin, schlug die Zeit tot. Vielleicht graute ihr vor dem Nachhausegehen ebenso sehr wie ihm.
    Er entdeckte sie wieder, als sie sich gerade durch eine Drehtür schob, die zur Außenwelt führte. Eilig wich er zwei älteren Damen aus, eine davon mit Stock, und lief zur Tür. Direkt davor blieb er stehen, sah sie durchs Schaufenster an der Bushaltestelle am Straßenrand stehen. Zum ersten Mal sah er sie richtig an. Sie trug einen blau karierten Faltenrock und einen hellblauen, flauschigen Pullover. Als ein Windstoß ihr die Haare zerzauste, hob sie das Gesicht. Ihre Haare reichten bis zur Schulter und waren so schwarz und glänzend, dass er glaubte, sie müssten quietschen, wenn er ein Büschel in die Hand nähme. Ihre Züge waren zart: kleine Nase, hohe Backenknochen, Lippen ohne Lippenstift. In diesem Augenblick holte sie tief Luft, und ihre Brüste hoben sich im Pullover, spannten den flauschigen Stoff.
    Buddy sah schnell weg, fühlte sich schmutzig, irgendwie pervers. Und doch zugleich auch erregt. Als er wieder zu ihr hinsah, kam gerade der Bus, und sie trat vor. Kurz darauf hatte sie den Bus bestiegen. Mit einem Ächzen schloss sich die Tür hinter ihr. Buddy sah dem davonpolternden Bus nach und begann sie zu vermissen. Das war natürlich lächerlich, weil er das Mädchen ja gar nicht kannte.
    Am nächsten Tag der gleiche Ablauf – Krankenhausbesuch, dann mit dem Bus zum Einkaufszentrum –, und er folgte ihr von einem Laden zum anderen, während sie ziellos umherlief. Da er ihre nächsten Schritte voraussagen konnte, brauchte er nicht mehr dicht an ihr dranzubleiben, genoss es aber, in ihrer unmittelbaren Umgebung zu sein. Allmählich wurde er unachtsam, schlenderte an einem dieser aus mehreren Teilen zusammengesetzten Spiegel in Filene vorbei und war wie vor den Kopf gestoßen, als er ihr Spiegelbild neben seinem sah. Er wich zur Seite und wäre fast mit ihr zusammengestoßen. Zwischen seiner rechten Hand und ihrer linken Hand kam es zu einer kurzen Berührung, als sie sich einander zuwandten. Sie waren einander so nahe, dass er ihr Parfüm riechen konnte, etwas Leichtes und Luftiges, wie der Frühling. Der Duft trug noch zusätzlich zu seiner Verwirrung und Verlegenheit bei. »Verzeihung«, murmelte er, nahm ihren Mund wahr, der vor Überraschung leicht offen stand, ihre leuchtend blauen Augen, das Blau von Malstiften für Kinder. Ganz konfus stolperte er davon, mit glühenden Wangen, voll Abscheu vor sich selbst, fluchte lautlos: Verdammt, verdammt. War seine Tarnung jetzt aufgedeckt? Sein Gesicht bekannt, seine Anonymität für immer dahin?
    Als er den Laden verließ, dachte er darüber nach, ob er es riskieren sollte, ihr noch einmal zu folgen. Wenn nicht –

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