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Unheilvolle Minuten (German Edition)

Unheilvolle Minuten (German Edition)

Titel: Unheilvolle Minuten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Cormier
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sinnender Buddha. »He, Jane«, hatte Artie gerufen, nachdem er mit den Fingerknöcheln gegen die Tür getrommelt hatte, dreimal kurz, zweimal lang, ihr Geheimsignal aus der Zeit, als sie noch klein waren und es dazu benutzten, ihre Babysitter auszutricksen. »Sei nicht so eine Nulpe, Jane. Komm da raus.«
    Auch Artie bekam keine Antwort. S ei nicht so eine Nulpe, Jane. Wo hatte er diesen Ausdruck überhaupt her? Nulpe. Ein blödes Wort.
    Ihr Zimmer gefiel ihr nicht mehr. Die Poster fehlten ihr. Die meisten ihrer kleinen Glastiere hatten keinen Schaden genommen, aber sie weigerte sich, sie wieder aufzustellen. Hatte sie in Seidenpapier verpackt und verwahrte sie in einer Schachtel im Schrank. Stieg immer mit großer Vorsicht über die Stelle an der Tür, wo die schreckliche Lache mit Erbrochenem gewesen war.
    Mit gerümpfter Nase sog sie schnuppernd die Luft ein, suchte nach dem üblen Gestank unter der Oberfläche. Kein Gestank, aber sie wusste, dass er dort lauerte und sie einzuhüllen drohte, wenn sie am wenigsten damit rechnete.
    »Der Schlüssel«, murmelte sie vor sich hin. »Dieser verdammte Schlüssel.«
    Sie trat ans Fenster, schaute hinaus, stellte überrascht fest, dass es regnete. Sie hatte an der Fensterscheibe keine Regentropfen gehört. Sanfter, zarter Frühlingsregen, ein melancholischer Regen, die Straßen verlassen, keine spielenden Kinder, keine Hunde in Sicht. Lauerten Zerstörer im Wald?
    Sie hätte ihren Eltern das mit dem Schlüssel sofort erzählen sollen. Aber zu dieser Zeit war ihr schon mehrfach etwas abhanden gekommen. Ihr rotes Lederportemonnaie, ein Weihnachtsgeschenk, das sie irgendwo mit zwanzig Dollar Inhalt verloren hatte. Im Kino verloren. Zwei Tage später hatte jemand vom Kino angerufen und berichtet, dass man das Portemonnaie gefunden hatte. Es war beschädigt, zerrissen, und das Geld war natürlich weg. Als Nächstes hatte sie einen Perlenohrring verloren, wieder ein Geschenk von ihrer Lieblingstante, Tante Cassie aus Monument. Jane hatte niemandem von dem Verlust erzählt. Ihre Mutter hatte den Ohrring dann in der Küche gefunden, in der Ecke auf dem Fußboden. Das hatte alles nur noch schlimmer gemacht.
    »Hast du denn nicht gemerkt, dass der Ohrring weg war?«, hatte ihre Mutter gefragt. »Warum hast du uns nichts davon gesagt?« Und an Janes Vater gewandt: »Merkst du, was da vor sich geht, Jerry? Unsere Kinder haben Geheimnisse vor uns.«
    All das überraschte Jane. Wussten ihre Eltern denn nicht, dass alle Kinder Geheimnisse vor ihren Eltern hatten? War das bei ihnen denn nicht auch so gewesen, als sie Kinder waren? Oder ging mit dem Erwachsenwerden eine Art von Gedächtnisverlust einher, was solche Sachen anbetraf?
    Als sie den Schlüssel verlor, behielt sie das für sich. Erwähnte es niemandem gegenüber, obwohl Karen und Artie ihr vermutlich beim Suchen geholfen hätten. Im Grunde war sie auf den Schlüssel auch gar nicht ernsthaft angewiesen. Meistens war jemand da, wenn Jane nach Hause kam. Der Schlüssel war ohnehin nur eine Plage gewesen. Andere Schlüssel hatte sie nicht. Keine Autoschlüssel – sie nahm in der Schule Fahrunterricht und durfte den Wagen ihrer Eltern noch nicht benutzen. Ein Kombinationsschloss am Schließfach in der Schule. Den Hausschlüssel hatte sie entweder in der Tasche verwahrt oder in einem Fach ihres Portemonnaies. Dauernd passierte es ihr, dass sie ihn nicht finden konnte. Manchmal rutschte er ihr im Sitzen aus der Jeanstasche und fiel auf den Stuhl. Als sie entdeckte, dass der Schlüssel fehlte, wusste sie nicht, wann und wo sie ihn verloren hatte. Das war ein weiterer Grund, warum sie es verabsäumte, den Verlust zu melden; sie hätte keine Einzelheiten dazu angeben können. Mit der Zeit hatte sie den Schlüssel völlig vergessen. Selbst als die Verwüstung passierte, hatte sie den Überfall nicht mit ihrem verlorenen Schlüssel in Verbindung gebracht.
    »Jane.«
    Ihre Mutter.
    Was Jane nicht vergessen konnte: Wie ihr Vater ihr ausgewichen war, an ihr vorbeigesehen hatte, als wäre sie aus der Familie verbannt worden. Und als er sie schließlich dann doch ansah, waren seine Augen die Augen eines Fremden gewesen. Eines anklagenden Fremden. Bis zu diesem Augenblick war ihr nicht bewusst gewesen, wie sehr in den Augen das Geheimnis lag, wer und was man ist. Als sie ihrem Vater in die Augen gesehen hatte, war da ein Fremder gewesen, der Mann, dem andere Leute auf der Straße oder im Büro begegneten. In diesem einen, dramatischen

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