Universum der Doppelgänger
gehen. Frühe Erinnerungen an Hansel und Gretel und das Hexenhäuschen erhoben sich zu lebendiger Klarheit.
Unsinn, dachte er streng. Es gibt keine Hexen. Hier ist niemand außer diesem Lorenzo und der armen Gräfin Andragorre, wahrscheinlich in Fesseln, zu Tode verängstigt und gegen jede Vernunft hoffend, daß jemand des Weges kommen und sie retten werde, das arme Kind. Also warum warte ich noch? Warum trete ich nicht die Tür ein und zerre diesen Lorenzo am Kragen heraus und …
Er hörte ein metallisches Schlagen, während das Knarren andauerte. Dann mischte sich ein leises Knirschen und Mahlen hinein, wie von einer Fleischmaschine, die kleine Knochen zermalmt.
Vielleicht foltert er sie, das Ungeheuer! dachte Lafayette entsetzt. Er ging drei Schritte zurück, spannte seinen Körper und warf sich mit einem Anlauf gegen die Tür. Sie flog unter dem Anprall auf, und er stürzte in die Mitte eines gemütlichen Zimmers, wo ein Holzfeuer im offenen Kamin brannte und seinen rosigen Widerschein auf das Gesicht einer älteren Frau warf, die mit einer Katze auf dem Schoß in einem Schaukelstuhl saß und Salzbrezel verzehrte.
»Oh – Lorenzo!« sagte sie in einem Ton mäßiger Überraschung. »Willkommen. Möchtest du eine Brezel?«
Als er mit einer Brezel in einer Hand und einer Tasse Kaffee in der anderen am Feuer saß, versuchte Lafayette Ordnung in seine durcheinandertaumelnden Gedanken zu bringen. Seine Gastgeberin häkelte geschäftig an einer Decke, die sie aus einer Truhe unter dem Fenster herausgewühlt hatte, und schwatzte dazu in einer monotonen, etwas kratzenden Stimme. Er schien irgendwie außerstande, dem zu folgen, was sie sagte – etwas über einen kleinen Kuckuck, der von Blume zu Blume flatterte und sich in einer großen, weichen Blüte niederließ, um ein Schläfchen zu machen …
Lafayette wachte mit einem Schreck auf, als sein Kinn auf seine Brust fiel.
»Ach, du bist müde, armer Junge. Und kein Wunder, bei den vielen Stunden! Oh, ich hätte es beinahe vergessen: Deine Freunde waren hier.« Sie warf ihm einen lächelnden, aber scharfen Blick zu.
»Freunde?« Lafayette gähnte. Wie lange war es her, seit er geschlafen hatte? Eine Woche? Oder nur drei Tage? Oder … oder war es möglich, daß es erst gestern abend gewesen war, wohlig ausgestreckt in dem großen Bett mit den seidenen Laken …
»… sagten, ich solle mir nicht die Mühe machen, es dir zu sagen, sie wollten dich überraschen. Aber ich dachte, du würdest es lieber wissen.« Ihre Stimme hatte eine Schärfe, die seine Schläfrigkeit durchdrang.
Er zwang seine Aufmerksamkeit auf die Worte der alten Dame. Ihre Stimme kam ihm irgendwie vertraut vor. War er ihr früher begegnet? Oder …
»Was wissen?« fragte er.
»Daß sie zurückkommen wollen.«
»Ah – wer?«
»Die freundlichen Herren mit den schönen Pferden.«
Lafayette war plötzlich hellwach. »Wann waren sie hier?«
»Du hast sie um vielleicht dreißig Minuten verfehlt, Lorenzo.« Trübe alte Augen durchbohrten ihn durch dicke Brillengläser. Waren sie wirklich trüb und alt? Auf den zweiten Blick waren sie bemerkenswert scharf. Wo, fragte sich Lafayette, hatte er diesen bohrenden Blick gesehen?
»Madame, Sie waren sehr freundlich, aber ich muß jetzt wirklich gehen. Und ich glaube, Sie sollten es wissen: Ich bin nicht Lorenzo.«
»Nicht Lorenzo? Wie meinst du das?« Sie spähte über die Brillengläser in sein Gesicht.
»Ich kam her, weil ich einen Burschen namens Lorenzo oder Lothario oder Lancelot suchte. Als Sie mich so freundlich aufnahmen und mir Wärme und Essen anboten, da war ich, nun – ich war ausgehungert und halb erfroren, und ich nützte Ihre Güte einfach aus. Aber nun muß ich weiter …«
»Nicht doch! Davon will ich nichts hören! In einer solchen Nacht kann man sich draußen den Tod holen.«
»Ich weiß nicht, ob Sie verstehen«, sagte Lafayette, während er sich zur Tür schob. »Ich bin für Sie ein völlig Fremder. Ich kam einfach hier herein und …«
»Aber sicherlich sind Sie derselbe charmante junge Mann, der das Dachzimmer mietete?« Die alte Dame spähte ihn kurzsichtig an.
Lafayette schüttelte seinen Kopf. »Ich fürchte, nicht. Ich kam her und suchte die Gräfin Andragorre; sie soll irgendwo in der Gegend sein.«
»Wirklich? Sie sind ein Freund meiner Nichte? Wie schön! Warum haben Sie es mir nicht gesagt? Aber nun müssen Sie wirklich die alberne Idee aufgeben, in diesen eisigen Wind hinauszugehen. Übrigens, wo ist meine
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