Unmoralisch
erwartet, sie durch den Gefängnisaufenthalt gealtert zu sehen, aber sie sah fast jünger aus als in den dunklen Tagen des Prozesses. Sie war sorgfältig geschminkt und trug roten Lippenstift. Ihre Augen, die früher so leer und tot gewirkt hatten, strahlten wieder, und sie trug das dunkle Haar in einem hübschen Bob. Sie trug eine braune Hose und eine weite weiße Baumwollbluse.
»Hallo, Lieutenant«, sagte sie. »Lange nicht gesehen.«
»Das ist wahr. Gut sehen Sie aus, Mrs Tenby.«
»Sagen Sie bitte Emily zu mir«, entgegnete sie liebenswürdig.
»Gern. Das ist Serena Dial. Sie ist von der Sheriffstation Clark County in Las Vegas.«
Emily zog die Augenbrauen hoch. »Las Vegas?«
Serena nickte. Emily spitzte besorgt die Lippen. Sie hielt die Tür ein Stück weiter auf und bat sie herein.
»Dayton ist im Wohnzimmer. Es tut mir Leid, dass Sie uns gestern Abend nicht mehr erreicht haben. Wir haben Ihre Nachricht zwar bekommen, aber wir waren erst sehr spät zu Hause. Unser Flug nach Minneapolis hatte zwei Stunden Verspätung, und danach mussten wir ja noch hierher fahren.«
»Waren Sie im Urlaub?«, fragte Serena.
»Ja, aber für Dayton war es mehr ein Arbeitsaufenthalt. Wir waren bei einer nationalen Kirchentagung in San Antonio am Riverwalk und haben noch zwei Tage drangehängt, um die Woche voll zu machen.«
Emily führte sie ins Wohnzimmer. Dayton Tenby saß auf dem Sofa, stand aber sofort auf und gab ihnen beiden die Hand. Das wenige Haar, das noch rund um seinen schmalen Schädel übrig war, war vollkommen grau geworden. Er hatte ein paar Kilo zugenommen und wirkte nicht mehr so hager wie damals, als Stride ihn kennen gelernt hatte. Er trug eine graue Anzughose, ein gestärktes weißes Hemd und eine schwarze Acrylweste.
Emily und Dayton nahmen nebeneinander auf einem Zweiersofa Platz und fassten sich an den Händen. Stride und Serena setzten sich ihnen gegenüber auf das Sofa. Stride fand, dass die Ehe den beiden gut tat. Trotz des Altersunterschieds von mehr als zehn Jahren schienen sie ausgesprochen glücklich zu sein.
»Ich möchte Ihnen sagen, Lieutenant, dass ich trotz allem nicht bereue, was ich getan habe«, sagte Emily. »Ich bin bereit, meine Schuld der Gesellschaft gegenüber zu verbüßen, aber wenn ich noch einmal in der Situation wäre, würde ich genau dasselbe wieder tun.«
Stride zögerte kurz. »Das verstehe ich.«
Dayton sah sie an. »Ich nehme an, das ist kein Höflichkeitsbesuch. Sie haben doch sicher Neuigkeiten für uns.«
»Ja, wir haben Neuigkeiten«, sagte Stride. »Und ich muss Ihnen gleich vorab sagen, dass es wahrscheinlich sehr verstörende Neuigkeiten sein werden.«
»Sie haben sie gefunden«, sagte Emily.
»Richtig. Aber nicht unter den Umständen, die wir alle erwartet hätten. Anfang der Woche wurde Miss Dial in die Wüste außerhalb von Las Vegas gerufen. Dort war die Leiche einer jungen Frau gefunden worden. Wie sich herausgestellt hat, handelte es sich um Rachel.« Er hielt kurz inne und fuhr dann fort. »Sie war erst seit kurzer Zeit tot. Seit wenigen Tagen. Offenbar war Rachel also die ganzen letzten drei Jahre am Leben.«
»Am Leben?«, hauchte Emily, und ihre Augen weiteten sich. »Die ganze Zeit?«
Stride sah, wie sie Daytons Hand fester umklammerte. Dann schloss sie die Augen und ließ den Kopf langsam an seine Schulter sinken.
»Wie ist sie gestorben?«, fragte Dayton.
»Es tut mir so Leid«, sagte Serena mit sanfter Stimme. »Sie wurde ermordet.«
Dayton schüttelte den Kopf. »O nein …«
Emily richtete sich wieder auf und rieb sich die Augen. Dann zog sie ein Taschentuch aus einer Schachtel auf dem Couchtisch und putzte sich die Nase. Sie blinzelte und bemühte sich, die Fassung zurückzugewinnen. »Sie sagen also, dass Graeme meine Tochter nicht ermordet hat?«
»Das ist richtig«, sagte Stride.
»Mein Gott.« Sie drehte sich zu Dayton um. »Ich habe ihn umgebracht. Und er war es gar nicht! Sie war die ganze Zeit am Leben!«
»Er hat sie vielleicht nicht umgebracht, aber das heißt noch lange nicht, dass er unschuldig war«, erwiderte Dayton.
»Ich weiß, ich weiß. Aber sie hat sich bestimmt amüsiert, wo immer sie war. Sie hat mich dazu getrieben, ihn umzubringen!«
»Wissen Sie, was genau passiert ist?«, fragte Dayton Serena. »Wer hat sie getötet?«
»Das versuchen wir noch herauszufinden«, sagte Serena. »Ich weiß, es ist kein guter Zeitpunkt für Sie, aber ich muss Ihnen die Frage trotzdem stellen. Hatten Sie vorher schon
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