Unmoralisch
Blickes mehr würdigten, obwohl sie weinte und die Leute, die vorbeigingen, sie anstarrten. Emily wischte sich die Tränen von den Wangen und drängte sich dann durch die Menge dorthin, wo die Zuschauer neben dem Schleudersitz standen. Sie würde einfach weitermachen wie bisher. Sie würde ihnen zujubeln, ihrem Mann, der sie behandelte wie den letzten Dreck, und ihrer Tochter, der er beigebracht hatte, sie zu hassen.
Als Tommy und Rachel im Schleudersitz festgeschnallt worden waren, wurden sie von einem Scheinwerfer angestrahlt, und Emily sah ihre Gesichter ganz deutlich.
Rachel strahlte und zeigte keine Spur von Angst. Aber Tommy war bleich. Sein Gesicht war kalkweiß, und auf der Stirn sammelten sich Schweißtropfen.
Und plötzlich wusste Emily mit entsetzlicher Klarheit, dass Tommys Zustand absolut nichts mit dem Jahrmarkt zu tun hatte und auch nichts mit einer Muskelzerrung – dafür aber umso mehr mit seinem Vater, der mit siebenunddreißig gestorben war, und seinem Großvater, der nur dreißig Jahre alt gewesen war, als man ihn beerdigte.
Verlang nicht von mir, dass ich erwachsen werde, Emily. Das hatte er einmal zu ihr gesagt, in einem der seltenen Momente, als er nüchtern war.
»Stopp!«, schrie Emily. Doch niemand hörte sie.
Die vielen Reize des Jahrmarkts zerflossen ineinander. Die lauten Stimmen und die Musik dröhnten ihr im Kopf, die Lichter begannen, um sie herumzuwirbeln. Sie roch verbranntes Schmierfett und glaubte, an dem Gestank ersticken zu müssen.
»Er hat einen Herzanfall!«, schrie sie, so laut sie konnte.
Die Umstehenden lachten. Sie hielten es für einen Witz, fanden es lustig.
Ping. Die Schleuder ging los, und die runde Gondel schoss pfeilschnell in die Höhe. Der Turm schwankte und knarzte, und das Mikrofon im Innern der Gondel übertrug Rachels freudiges Quietschen. Sie schien eine fast sexuelle Erregung dabei zu empfinden, so schwerelos durch die Luft geschleudert zu werden. Glucksendes Lachen perlte aus ihr heraus und ergoss sich über die Menge.
Tommy gab keinen Ton von sich.
Immer wieder schoss die Gondel nach oben und nach unten, hüpfte und sprang wie ein Stehaufmännchen, dreißig Sekunden lang, die eine Ewigkeit zu dauern schienen. Dann hörte Emily ein Murmeln in der Menge um sie herum. Ein paar Leute deuteten nach oben. Rachels Freudenschreie verklangen.
»Papa?«
Emily sah ihren Mann jetzt ganz deutlich. Sein Kopf baumelte zur Seite, die Augen waren verdreht, sodass man nur noch das Weiße sah, und die Zunge hing ihm schlaff aus dem Mund. Rachel sah es ebenfalls und schrie laut auf.
»Papa? Wach doch auf, Papa!«
Emily kletterte über den Zaun, der die Zuschauerplattform vom Schleudersitz trennte. Inzwischen war es den Jahrmarktsmitarbeitern gelungen, die Gondel abzufangen und zurück auf den Boden zu holen. Als Emily näher kam, sah sie, wie sie Rachel die Sicherheitsgurte abnahmen. Sie klammerte sich an ihren Vater und schluchzte hysterisch. Die Männer nahmen auch Tommy die Sicherheitsgurte ab, doch er glitt aus der Gondel und sank auf dem Boden in sich zusammen, während Rachel sich immer noch an ihn klammerte und seinen Namen rief.
Emily hatte in diesem Augenblick gewusst, dass ihr Leben an einem Wendepunkt angelangt war. Ein Teil von ihr hatte insgeheim gehofft, dass nun alles besser werden würde. Es war in vielerlei Hinsicht leichter, mit dem toten Tommy zu leben als mit dem lebendigen. Sie war ohnehin immer diejenige gewesen, die gearbeitet und die Rechnungen bezahlt hatte. In den nächsten Jahren hatte sie damit begonnen, nach und nach die Schulden abzutragen.
Doch für ihre Tochter war Tommy nicht tot. In Rachels Erinnerung lebte er weiter.
Es hatte schon am nächsten Tag angefangen, als sie in wortloser Trauer vom Jahrmarkt zurück nach Duluth gefahren waren. Die Tränen auf Rachels Wangen waren getrocknet und überraschend schnell der Boshaftigkeit gewichen. Irgendwo auf dem Highway hatte die Kleine ihren kalten Blick auf Emily gerichtet und mit fürchterlicher Leidenschaftlichkeit gesagt: »Du hast das getan.«
Emily hatte versucht, es ihr zu erklären. Sie hatte Rachel von Tommys schwachem Herzen erzählt, aber Rachel hatte nichts davon hören wollen.
»Papa hat immer gesagt, wenn er stirbt, hast du ihn umgebracht«, verkündete sie.
Und damit hatte der Krieg begonnen.
Jetzt lag Emily in Rachels Bett und hielt das alberne Plüschschwein in der Hand.
»Ach, Liebling«, murmelte sie. »Was habe ich nur getan, dass du mich so hasst? Wie kann
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