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Unmoralisch

Unmoralisch

Titel: Unmoralisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Freeman
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Schiff davonfahren sah – einer der Gründe, warum er nirgendwo anders leben wollte.
    Die Bewohner des Point waren ein zähes Völkchen, die Touristen, Stürmen, Unwettern, Schnee und Eis trotzten, um dafür das Privileg der wenigen idyllischen Sommertage zu genießen, an denen kein Mensch auf Erden an einem besseren Ort wohnte als sie. Sie teilten sich ein Stückchen Strand, das jedes Jahr ein paar Zentimeter kleiner wurde. Pampasgras und alte Bäume trennten das Sandstück von den Gärten der Häuser. An Sonntagen im Juli schleppte Stride oft einen Liegestuhl an den Pampasgrasbüschen vorbei, stellte ihn am Strand auf und saß dann stundenlang da und schaute den vorbeifahrenden Segelbooten und Lastkähnen zu.
    Die meisten Häuser am Point – mit Ausnahme der wenigen, die von reichen Städtern abgerissen und neu gebaut worden waren – waren alt und baufällig und den Elementen schutzlos ausgeliefert. Stride strich sein Haus jedes Frühjahr, mit irgendeiner Farbe, die gerade im Angebot war. Doch länger als bis zum nächsten Winter hielt der Anstrich nie.
    Sein Haus lag etwa einen halben Kilometer von der Brücke entfernt. Es war knapp neun Meter breit und quadratisch, und die Eingangstür mit den beiden Stufen davor befand sich genau in der Mitte. Rechts von der Tür lag das Wohnzimmer, dessen Fenster nach vorne hinausging. Auf der linken Seite des Hauses befand sich eine Garage mit einem Stellplatz, zu der ein kleiner, sandbestreuter Weg hinführte, der gerade noch als Zufahrt durchging.
    Stride bewegte den Schlüssel im Schloss hin und her und stemmte dann die Schulter gegen die Tür, um sie aufzuschieben. Er ließ sie hinter sich zufallen, blieb im Flur stehen und lehnte sich mit geschlossenen Augen an die Tür. Er roch den modrigen Geruch von altem Holz und den anhaltend fischigen Geruch der Eismeerkrabben, die er sich zwei Tage zuvor zum Abendessen gemacht hatte. Aber das war noch nicht alles. Obwohl sie schon ein Jahr tot war, nahm er im Haus immer noch Cindys Duft wahr. Vielleicht lag es nur daran, dass er diesen Hauch von Parfüm und blumiger Seife fünfzehn Jahre lang gerochen hatte und sich so gut daran erinnerte, dass seine Fantasie ihn ihm vorgaukelte. Anfangs hatte er den Duft aus dem Haus beseitigen wollen, hatte sämtliche Fenster aufgerissen, um die Seeluft hereinzulassen. Doch dann, als der Geruch langsam nachzulassen begann, hatte er Angst bekommen und tagelang alle Türen und Fenster verschlossen gehalten, weil er fürchtete, ihn ganz zu verlieren.
    Jetzt taumelte er erschöpft vom Flur ins Schlafzimmer und leerte den Inhalt seiner Taschen auf den Nachttisch. Er zog die Jacke aus und ließ sie auf den Boden fallen, dann sank er auf sein ungemachtes Bett. Seine Füße schmerzten, und er wusste nicht mehr genau, ob er die Schuhe ausgezogen hatte. Aber das war egal.
    Er schloss die Augen, und da war sie wieder, wie er es schon erwartet hatte. In den letzten Wochen hatten die Träume nachgelassen, aber heute Nacht war er sich ganz sicher, von neuem gequält zu werden.
    Er war auf einer Landstraße, mitten in der Einöde. Birken erstreckten sich kilometerweit zu beiden Seiten der verlassenen Straße. Auf der anderen Seite der asphaltierten Fläche, die in der Mitte von einer gelben Linie geteilt wurde, stand Kerry McGrath und strahlte ihn mit ihrem fröhlichen, unbeschwerten Lächeln an. Auf ihrem Gesicht glänzte Schweiß. Sie war gelaufen, und ihre Brust hob und senkte sich, während sie tief ein- und ausatmete.
    Sie winkte ihm zu und bedeutete ihm, zu ihr auf die andere Straßenseite zu kommen.
    »Cindy«, rief er.
    Das Lächeln verschwand von Kerrys Gesicht. Sie drehte sich um und lief zwischen den Bäumen hindurch davon. Er versuchte, ihr zu folgen, rannte den Abhang am Rand der Straße hinunter und in den Wald hinein. Seine Beine waren schwer wie Blei, und seine linke Hand ebenfalls. Als er hinschaute, sah er, dass er eine Pistole darin hielt.
    Von irgendwoher erklang ein Schrei.
    Er stolperte den Weg entlang und wischte sich den Schweiß aus den Augen. Oder war es Regen? Wasser schien durch das Laub zu dringen, ließ den Weg matschig werden und durchnässte Strides Haar. Weiter vorn fiel ein Schatten auf den Pfad – etwas Großes, Bedrohliches.
    Er rief noch einmal nach Kerry: »Cindy!«
    Durch das Gewirr von Bäumen sah er eine Gestalt, die stehen geblieben war und auf ihn wartete.
    Doch es war nicht Kerry.
    Rachel stand dort, und sie war nackt. Sie trat ihm auf dem Pfad entgegen, die Arme

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