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Unmoralisch

Unmoralisch

Titel: Unmoralisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Freeman
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ich das alles je wieder gutmachen?«

5
    Stride wohnte in Park Point, dem Viertel, das sich wie ein krummer Finger zwischen die südliche Spitze des Sees und die beiden ruhigeren Hafenbecken von Duluth und Superior bohrte. Der Point war eine Halbinsel und gerade so breit, dass zu beiden Seiten der Straße je eine Reihe Häuser Platz hatte. Es gab nur einen Zugang, die Hebebrücke über den Kanal, und deshalb waren alle Anwohner gezwungen, ihr Leben nach den Ankunfts- und Abfahrtszeiten der Eisenerzschiffe auszurichten.
    Stride hatte keinen Gedanken an die Brücke verschwendet, als er um vier Uhr morgens wie ferngesteuert in Richtung Point fuhr. Er konnte kaum noch die Augen offen halten, und anfangs kam ihm die durchdringende Warnglocke wie eine Sinnestäuschung vor. Er drehte die Sara-Evans-Kassette leiser und lauschte. Als ihm schließlich klar wurde, dass die Brücke tatsächlich hochgezogen wurde, trat er aufs Gas. Aber es war längst zu spät. Entnervt hielt er direkt vor dem Schutzgeländer, stellte den Motor ab und fragte sich, wie lange er jetzt wohl hier festsitzen würde.
    Er stieg aus dem Wagen, stützte sich auf die Tür und spürte, wie die kalte Luft ihn einhüllte. Dann griff er nach drinnen, in den Tassenhalter, zog ein neues Päckchen Zigaretten hervor und zündete sich eine an. So viel zum Thema Willenskraft. Aber das war ihm auch egal. Rauchen, erschöpft dastehen und zuhören, wie die ächzenden Stahlträger der Brücke über ihm nach oben gezogen wurden: Das war sein Leben. So war es bereits seit einem Jahr, seit ihm der Krebs Cindy geraubt hatte. Die Stadt, die immer sein Zuhause gewesen war und die er niemals verlassen wollte, hatte sich für ihn verändert. Sie war düsterer und bedrohlicher geworden. Vertraute Dinge wie die riesige Hebebrücke und der Geruch des Sees waren jetzt nur noch mit Erinnerungen überfrachtet.
    In seiner Jugend war Duluth eine Stadt mit einem einzigen Industriezweig gewesen, die nördliche Hauptstadt des Bundesstaates, der aus gutem Grund als »Eisenerzgürtel«, »Iron Range«, bezeichnet wurde. Eine Stadt, die Unmengen von Takonit in die Bäuche riesiger Schiffe füllte, die dann tief ins Wasser sanken und sich ihren Weg durch die breiten Wasserstraßen des Lake Superior Richtung Nordosten bahnten. Eine harte, erbarmungslose Stadt, in der kräftige Bergarbeiter lebten und Seemänner, wie sein Vater.
    Stride konnte sich nicht erinnern, dass das Leben damals besonders gut gewesen war, aber Duluth war noch eine Kleinstadt gewesen und die Leute hatten die Höhen und Tiefen der Eisenerzproduktion gemeinsam durchlebt, gute und schlechte Jahre verbracht, gemeinsam gearbeitet, gemeinsam gestreikt. Neun Monate im Jahr, bis der See zugefroren war, bestimmte die Erzindustrie den Lebensrhythmus der Stadt. Züge kamen und fuhren davon, Schiffe kamen und fuhren davon. Die Brücke hob sich und senkte sich wieder. Der Rohstoff des Stahls, der überall auf der Welt zu Wolkenkratzern, Autos und Waffen verarbeitet wurde, hatte seinen Ursprung im lehmigen Boden des nördlichen Minnesota und trat von dort aus in den gewaltigen Schiffen seine Reise auf dem Seeweg an.
    Doch dann hatte die Takonitindustrie wegen der Konkurrenz aus Übersee geschwächelt und mit ihr auch das Glück der Stadt Duluth. Das Eisenerz genügte nicht mehr, um den Lebensunterhalt zu decken. Da betrachteten die weisen Herren der Stadtverwaltung die Lage der Stadt am See und sprachen: Es sollen Touristen kommen. So war die Eisenerzindustrie selbst zur Touristenattraktion geworden, die jedes Mal, wenn ein Schiff den Kanal durchquerte, Schaulustige an die Brücke zog.
    Jetzt allerdings, mitten in der Nacht, war niemand da. Stride stand allein am Geländer, nahm lange Züge von seiner Zigarette und sah zu, wie der rostrote Schiffskörper unter der Brücke hindurchkroch. An Deck des Schiffes sah er einen Mann stehen, der ebenfalls allein war und ebenfalls rauchte. Er war schwer auszumachen, kaum mehr als ein Umriss in der Dunkelheit. Der Mann hob beiläufig die Hand zum Gruß, und Stride winkte zurück. Er selbst hätte dieser Mann sein können, wenn sein Leben so verlaufen wäre, wie er es sich als Junge vorgestellt hatte.
    Als die Brücke wieder heruntergelassen wurde, stieg er in seinen Bronco. Er hörte das Heulen der Stahlträger unter den Reifen, als er zum Point hinüberfuhr, und sah den Lichtern des Schiffes nach, das jetzt auf den See hinaussteuerte. Ein Teil von ihm fuhr mit. So war es jedes Mal, wenn er ein

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