Unmoralisch
Normalerweise beschränkten sich ihre gemeinsamen Unternehmungen auf die Stadt: Sie gingen ins Theater oder ins Konzert und trafen sich mit Andreas Kolleginnen aus der Schule zum Abendessen. Andrea präsentierte Stride gern ihren Freundinnen, die sich nach der Scheidung so um sie gekümmert hatten. Aber sie hatten bisher nichts von den ruhigeren Dingen unternommen, die Stride am liebsten tat, beispielsweise eine Bootspartie auf dem See. Er sehnte sich nach solchen Ausflügen, die früher Teil seines Lebens gewesen waren.
Aber der Nachmittag war eine einzige Katastrophe geworden. Trotz der warmen Frühlingssonne war es auf dem See bitterkalt, und in ihren leichten Jacken hatten sie dem Wind kaum etwas entgegenzusetzen. Stride hatte seine Angel ausgeworfen, aber eine heftige Windböe hatte innerhalb kürzester Zeit die Rute entzweigebrochen. Andrea hatte sich übergeben müssen, weil sie von dem ständigen Schaukeln auf den Wellen seekrank geworden war. Sie hatten zwei Stunden in Decken gehüllt unten in der Kabine verbracht und kaum ein Wort gewechselt, bis auf Strides sporadische Entschuldigungen und Andreas schwaches Lächeln. Im Kühlschrank warteten eine ungeöffnete Flasche Wein und ein aufwändiges Picknick, das sie kaum angerührt hatten.
Schließlich hatte Stride angeboten, sie nach Hause zu bringen, und zum ersten Mal an diesem Tag hatten ihre Augen begeistert aufgeleuchtet.
Und jetzt steuerte er sie auch noch mitten in ein Unwetter hinein. Schlimmer konnte es kaum noch werden. Er hoffte inständig, dass Andrea unter Deck blieb und die scheußlichen dunklen Wolken nicht sah, die sich da über den Himmel auf sie zuwälzten.
Stride wollte beschleunigen, doch der Motor leistete bereits sein Äußerstes im Kampf gegen den See. Wahrscheinlich würde er das Tempo bald wieder verlangsamen müssen, um das Boot unter Kontrolle zu halten. Er versuchte, dem Wind und den Wellen auszuweichen, aber die Böen wechselten immer wieder die Richtung. Stirnrunzelnd sah er zu, wie die Wolken im Westen auf gleiche Höhe mit der untergehenden Sonne kamen und Schatten auf das blaue Wasser warfen. Es wurde sofort kälter. Stride trug Handschuhe und eine Lederjacke und hatte sich eine Twins-Baseballkappe tief in die Stirn gezogen. Trotzdem taten ihm die Ohren weh, und seine Wangen waren gerötet und taub vor Kälte.
Er spürte, wie sich zwei Arme um seine Taille legten, und gleich darauf lehnte Andrea die Wange an seinen Rücken. Sie schob sich neben ihn, und er beugte sich herunter, um sie zu küssen. Sie lächelte, war aber bleich, und ihre Lippen fühlten sich kalt an. Als sie zum Ufer schaute und das herannahende Unwetter sah, riss sie die Augen auf und sah dann besorgt zu ihm hoch. Stride tat, als wäre alles in Ordnung.
»Wie lange dauert es noch, bis wir am Ufer sind?«
Stride zuckte die Achseln. »Eine Stunde vielleicht.«
Andrea betrachtete argwöhnisch die Unwetterwolken. »Das sieht nicht besonders gut aus«, sagte sie.
»Mach dir keine Sorgen, wir werden nur ein bisschen nass. Warum gehst du nicht wieder nach unten?«
Andrea legte keinen Wert auf die Wahrheit, sie wollte nur getröstet und beruhigt werden. Cindy hätte ihm in die Augen gesehen und ihn mit einem Blick durchschaut. Und dann hätte sie ihn so lange gedrängt, bis er ihr erzählt hätte, was ihn belastete.
Und die Wahrheit war: Er hatte Angst. Er spürte ein dichtes Knäuel von Furcht in der Magengegend. Das Unwetter machte ihm Sorgen, denn er war seit über einem Jahr nicht auf See gewesen und fühlte sich nicht mehr hundertprozentig sicher. Außerdem hatte er Angst vor dem Prozess, der am nächsten Tag beginnen würde, nachdem die Geschworenen zwei Wochen lang ausgedehnten Vorabbefragungen unterzogen worden waren.
Und schließlich machte er sich auch Sorgen wegen Andrea.
Er konnte sich einfach nicht darüber klar werden, ob sie sich langsam auf eine Liebesbeziehung zubewegten oder nur versuchten, sich von ihrem jeweiligen Schmerz abzulenken.
Ihr Liebesleben war merklich abgekühlt. Anfangs waren sie kaum aus dem Bett gekommen, als wollten sie die vielen Monate aufgestauter Leidenschaft wettmachen. Andrea hatte ihm gesagt, was er für ein wunderbarer, zärtlicher Liebhaber sei und wie gut es sich anfühle, ihn in sich zu spüren. Aber inzwischen schliefen sie nur noch selten miteinander. Andrea überließ ihm die Initiative und blieb merkwürdig unbeteiligt dabei. Sie küsste ihn, ließ sich von ihm lieben und kam auch zum Höhepunkt, aber sie
Weitere Kostenlose Bücher