Unmoralisch
schuldig war. Graemes kühles Lächeln machte ihn unruhig. Er mochte den Mann einfach nicht.
»Offenbar wollen Sie mir nicht sagen, was Sie herausgefunden haben«, sagte Graeme jetzt. »Das finde ich nicht besonders fair.«
»Je weniger Sie wissen, und je weniger Sie mir erzählen, desto besser«, erwiderte Gale.
»Gut, dann reden wir mal Klartext. Glauben Sie, ich bin in ein paar Wochen frei und kann nach Colorado ziehen, oder muss ich den Rest meines Lebens in einer sehr viel weniger angenehmen Umgebung verbringen?«
Gale musterte seinen Mandanten. »Ich bin kein Spieler, Graeme. Ich weiß nicht, ob Sie unschuldig sind, und es interessiert mich auch nicht. Aber Tatsache ist, dass sich ein Mord ohne Leiche nur schwer beweisen lässt. Und ich glaube nicht, dass die Indizienbeweise in diesem Fall genügen werden. Ich denke, Sie werden freikommen.«
»Obwohl mich die Geschworenen für ein perverses Schwein halten?«, fragte Graeme mit einem Lächeln.
»Das können wir ändern«, sagte Gale.
Graeme nickte zufrieden. »Das freut mich zu hören. Aber ich kenne mindestens eine Person, die darüber sehr enttäuscht sein wird.«
Gale fielen gleich mehrere Personen ein. »Wen meinen Sie?«
»Rachel.«
Gale sah ihn fassungslos an. »Dann glauben Sie also, dass sie noch lebt?«
»Ich bin mir ganz sicher.«
»Und was ist mit den Beweisen in Ihrem Wagen? Was ist mit der Scheune?«
»Die hat sie bewusst platziert«, sagte Graeme.
»Um Ihnen die Sache anzuhängen?«
»Genau.«
Gale kniff die Augen zusammen. »Und warum sollte Rachel das getan haben?«
»Sie ist ein sehr schwieriges Mädchen.«
Gale merkte, wie sehr ihm dieses Lächeln zuwider war. Jedes Mal, wenn er gerade zu glauben begann, dass sein Mandant tatsächlich unschuldig war, überzog dieses höhnische Lächeln Graemes Gesicht, und Gale sah ein böses Funkeln in seinen Augen. »Warum sind Sie da so sicher? Kann nicht jemand anders sie getötet und dann versucht haben, Ihnen den Mord anzuhängen?«
»Eine durchaus berechtigte Frage, die ich nur mit Ja beantworten kann.«
»Aber Sie glauben nicht daran«, sagte Gale.
Graeme schüttelte den Kopf.
»Das war also alles Rachels ausgeklügelter Plan?«, fragte Gale. »Sie hat all die Beweise gefälscht, um Sie ins Gefängnis zu bringen?«
»Davon gehe ich aus«, sagte Graeme.
»Wissen Sie, eines könnte unseren Fall noch zum Kippen und Sie ins Gefängnis bringen.«
»Ach ja? Und was, Mr Gale?«
»Wenn Daniel die Geschworenen davon überzeugen kann, dass Sie tatsächlich mit dem Mädchen geschlafen haben.«
»Was nicht stattgefunden hat, lässt sich auch nicht beweisen«, erwiderte Graeme.
Die Schatten des dämmrigen Hotelzimmers lagen auf seinem Gesicht, und Gale sah nur seine Augen, die ihn unverwandt anschauten, ohne zu blinzeln. In Graemes Stimme lag dieselbe gewandte Ehrlichkeit, die er auch sonst an den Tag legte, und seine Körpersprache verriet nichts. Es gab keine verräterischen Anzeichen dafür, dass er log, keines der üblichen Symptome, die Gale zu erkennen und für sich zu nutzen gelernt hatte. Und trotzdem wurde ihm jetzt zum ersten Mal ganz klar, dass er dem Mann kein Wort glaubte. Nicht eines.
Sein Mandant war schuldig. Diese Erkenntnis war fast eine Erleichterung. Jetzt konnte er ihn verteidigen.
»Ich hoffe, Sie sagen die Wahrheit«, sagte er. »Wenn Sie nämlich doch mit ihr geschlafen haben und Daniel das beweisen kann, haben Sie ein ernsthaftes Problem.«
Graeme lächelte.
3
Die Anlegestelle von Two Harbors war kaum noch zu sehen, sie war nur ein langer, schmaler Streifen, der die langen Reihen von Bäumen unterbrach. Hinter und über ihnen war der Himmel noch klar und blau, doch Stride sah die dunklen Wolken, die sich am Horizont auftürmten, sich wie ein Krebsgeschwür in den Himmel fraßen und dem Boot immer näher kamen. Der Wind peitschte den See zu schaumiger, weißer Gischt empor und warf das Boot hin und her wie ein kleines Wasserspielzeug. Er schob den Schalthebel nach vorn, der Motor stemmte sich gegen die Wellen, aber sie kamen trotzdem nicht viel schneller vorwärts. Das Unwetter würde sie erwischen, bevor sie das Ufer erreichten.
Er machte sich Vorwürfe, weil er sie beide in diese Lage gebracht hatte. Das schöne Wetter dieses Sonntags hatte ihn in Versuchung geführt, und Guppo hatte angeboten, ihm sein acht Meter langes Sportboot zu leihen, ein wahres Schmuckstück, das er von seinem Onkel geerbt hatte. Stride hatte Andrea gedrängt mitzukommen.
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