Unmoralisch
Aber er habe ja gewusst, dass er sich nichts vorzuwerfen und somit auch nichts zu verbergen habe.
Gale fragte sich, ob das stimmte. Für seine Verteidigung spielte das natürlich keine Rolle, aber eine gewisse morbide Neugier trieb ihn dazu, die Frage nach der Wahrheit zu stellen. Er hatte bereits mit vielen Lügnern zu tun gehabt und durchschaute sie normalerweise sofort. Bei Graeme war das anders. Der Mann sagte entweder die Wahrheit, oder er war der talentierteste Lügner, dem Gale in seiner ganzen Anwaltskarriere begegnet war. Unglücklicherweise lehrte die Erfahrung, dass die besten Lügner in der Regel auch die Verbrechen begangen hatten, deretwegen sie vor Gericht standen.
Natürlich war er in der Lage, die Geschworenen vom Gegenteil zu überzeugen. Aber was war das Gegenteil?
Gale musste zugeben, dass die Indizienbeweise der Anklage äußerst überzeugend waren. Die Spuren im Minivan und bei der Scheune wiesen direkt auf Graeme hin, auch wenn es keinen eindeutigen Beweis dafür gab, dass er an einem der beiden Orte gewesen war. Und auch wenn die Anklage seines Wissens keine konkreten Belege für eine sexuelle Beziehung zwischen Graeme und Rachel in der Hand hatte, waren die Hinweise doch klar genug, um eine Gruppe aufrechter Geschworener, die sowohl Telefonsex als auch schamlose Siebzehnjährige ablehnten, zu überzeugen. Die Wahrheit? Gale kannte sie nicht. Er konnte die Beweisführung der Anklage durchlöchern, und er hatte ein paar alternative Verdächtige in der Hinterhand, von denen die Geschworenen ohne weiteres glauben würden, dass sie etwas mit Rachels Verschwinden zu tun hatten. Doch nichts davon sprach Graeme in seinen Augen tatsächlich frei.
Er konnte ihn einfach nicht einschätzen, und das bereitete ihm leichtes Unbehagen. Gale hatte keine Probleme damit, schuldige Mandanten zu verteidigen, und Unschuldige verteidigte er sogar ausgesprochen gern. Aber es war eine neue Erfahrung für ihn, nicht zu wissen, woran er war.
Graeme lächelte ihn an. Er schien seine Gedanken lesen zu können. »Haben Sie das Gefühl, mit dem Teufel im Bunde zu sein, Mr Gale?«
Gale nahm Graeme gegenüber in einem Sessel Platz. »Über Ihr Seelenheil haben andere Geschworene zu entscheiden, Graeme. Sorgen wir uns jetzt erst mal um die, die wir morgen vor Gericht treffen.«
»Da haben Sie Recht«, sagte Graeme. »Also, was haben Sie von Danny erfahren können? Haben Sie dem armen Kerl ordentlich Angst eingejagt?«
Gale zuckte die Achseln. »Dafür, dass es keine Leiche gibt, ist seine Beweisführung nicht schlecht. Außerdem wirkt Daniel immer gut auf Geschworene.«
»Aber nicht so gut wie Sie«, bemerkte Graeme.
»Nein«, erwiderte Gale leichthin. »Das nun nicht.«
»Sehen Sie, genau für dieses Selbstvertrauen bezahle ich Sie. Aber sagen Sie mir mal ehrlich: Wie sieht es aus? Sie brauchen keine Rücksicht auf mich zu nehmen.«
»Also gut«, sagte Gale. »Die Anklage beruht auf Indizienbeweisen, und die sind sehr belastend. Außerdem haben die Medien so gegen Sie gewettert, dass kaum ein Geschworener noch völlig unvoreingenommen ist, auch wenn sie das bei der Vorabbefragung alle behaupten werden. Ich fürchte, die meisten werden mit der Ansicht in die Verhandlung gehen, dass Sie ein perverses Schwein sind.«
»Und was tun wir dagegen?«
»Daniel weiß genau, dass die Beweisführung die Geschworenen nur bis an den Rand des Abgrunds führt, und er will ihnen eine Brücke bauen, die sie direkt auf die andere Seite bringt. Ich will sie dazu bringen, sich erst mal alles in Ruhe anzuschauen und dann zu beschließen, dass die Brücke nicht tragfähig ist.«
»Schöner Vergleich«, bemerkte Graeme. »Aber Sie haben doch sicher noch mehr in petto.«
Gale nickte. »Da wäre noch die Sache mit dem Sündenbock.«
»Dafür hatte ich immer schon eine Schwäche.«
»Das ist auch richtig so. Es reicht nicht, einfach nur Zweifel daran aufkommen zu lassen, ob Sie es tatsächlich waren. Ich muss den Geschworenen auch begreiflich machen, dass es noch andere Möglichkeiten gibt. Wenn Sie der Einzige sind, der in Frage kommt, werden sie Sie schuldig sprechen, egal, wie unzureichend die Beweisführung ist.«
Graeme trank seinen Brandy aus und goss sich einen weiteren ein. »Aber Sie haben mir doch gesagt, es gibt andere Möglichkeiten.«
Gale nickte. »Ich denke schon.«
In Wahrheit hatte er ungewöhnlich große Zweifel daran, dass irgendeine der Personen, die er als mögliche Schuldige präsentieren wollte, wirklich
Weitere Kostenlose Bücher