Unmoralisch
nur eine begrenzte Anzahl von Puzzlestückchen gab, wenn ein Verbrechen begangen worden war. Sie hatten so viele wie möglich davon zusammengetragen und mussten es nun der Anklage und den Geschworenen überlassen, etwas daraus zu machen.
Dan war mit den Geschworenen sehr zufrieden. Er hatte einen Berater hinzugezogen, und gemeinsam hatten sie die »ideale Mischung« gefunden, wie der Berater sagte, die sich den Indizienbeweisen für Graemes Schuld und vor allem auch seiner mutmaßlichen Affäre mit Rachel gegenüber aufgeschlossen zeigen würde. Es waren acht Frauen und vier Männer. Vier Frauen waren verheiratet und hatten Kinder im Alter zwischen vier und zwanzig Jahren. Zwei weitere waren geschieden, und zwei waren jung und unverheiratet. Einer der Männer war verwitwet und hatte bereits Enkel, ein weiterer war schwul und lebte allein, der dritte war verheiratet und kinderlos, und der vierte studierte noch.
Auf Anraten des Beraters hatten sie es erfolgreich vermieden, verheiratete Männer mittleren Alters mit Töchtern im Teenageralter auf die Geschworenenbank zu setzen – Männer wie Graeme.
Nachdem sie die Auswahl der Geschworenen am Freitag abgeschlossen hatten, hatte Dan Stride zur Feier des Tages auf ein Bier eingeladen. Er hatte zwei Stunden lang seinen Sieg über Gale bejubelt, der bei der Vorauswahl erstaunlich wenig Widerstand geleistet hatte. Sein einziger Sieg hatte darin bestanden, Richterin Kassel davon zu überzeugen, dass die Geschworenen isoliert werden sollten, um sie nicht der Flut von Medienberichten auszusetzen, die den Prozess zwangsläufig begleiten würden.
Stride hatte Dan zugeprostet, aber seine Sorgen waren geblieben. Wenn die Geschworenen wirklich so vorteilhaft für die Anklage waren, warum hatte Gale sie dann zugelassen? Man konnte Gale nun wirklich nicht nachsagen, dass er nachlässig arbeitete, aber er hatte nicht einmal einen Berater für die Geschworenenauswahl hinzugezogen.
Warum nicht?
Dan hatte alle Bedenken beiseite gewischt. »Er hat dich schon so weit, dass du auf seine psychologischen Spielchen reinfällst«, hatte er erklärt. »Gale kocht auch nur mit Wasser, Jon. Er hat’s eben einfach vermasselt. Er hat gedacht, er kann die Geschworenenauswahl allein regeln, und er hat es nicht geschafft. Das ist alles.«
Aber Stride war nicht davon überzeugt.
Leise und vorsichtig, um Andrea nicht zu wecken, stand er auf und trat nackt ans Fenster. Die Stadt war ein Meer aus tausend blinkenden Lichtern, und dahinter erstreckte sich der schwarze See. Stride kippte geräuschlos das Fenster. Andrea schlief nicht gern bei offenem Fenster, und Stride, dessen Schlafzimmerfenster auch im tiefsten Winter noch offen stand, konnte sich nur schwer daran gewöhnen.
Die Nachtluft war kühl und süß.
Er war nicht ganz ehrlich zu sich gewesen. Dieser Fall bedeutete ihm mehr, als er geglaubt hatte. Und deshalb wollte er weitere Beweise: Er wollte verhindern, dass Graeme durch irgendwelche Gesetzeslücken rutschte. Er hatte das Gefühl, Rachel nicht auch noch enttäuschen zu können, nachdem er bereits Cindy und Kerry enttäuscht hatte. Zumindest eine Frau in seinem Leben sollte sich darauf verlassen können, dass er für sie eintrat.
Stride blieb fast eine halbe Stunde am Fenster stehen, blickte auf den Horizont hinaus und spürte den leichten Wind an der nackten Haut. Als er hörte, wie Andrea sich bewegte, machte er das Fenster zu und kroch zurück ins Bett. Er wälzte sich eine Weile hin und her und schlief schließlich ein.
Es war ein unglaublicher Morgen, ein so schöner Tag, wie man ihn in Duluth lange nicht erlebt hatte: strahlender Sonnenschein, ein klarer blauer Himmel und ein leichter Wind vom See her. Während Stride sich dem Gerichtsgebäude näherte, zog er seine Sonnenbrille aus der Tasche und setzte sie auf, in der Hoffnung, damit unbemerkt in der Menge verschwinden und das Gebäude betreten zu können, ohne von Reportern belagert zu werden.
Das Gerichtsgebäude befand sich unmittelbar neben der First Avenue in einer Sackgasse, die den Namen Priley Drive trug. Eine gebogene Zufahrtstraße führte um eine Parkanlage herum, in deren Mitte sich das Gericht befand. Rechts davon lag die Stadtverwaltung und links das Bundesgericht. Normalerweise war der Park ein friedlicher Ort. Stride machte hier oft Mittagspause, wenn er seinem Souterrainbüro entfliehen wollte, und saß auf einer Bank neben einem plätschernden Springbrunnen und einem Tulpenbeet, während über ihm die
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