Unmoralisch
sich wie wild im Kreis zu drehen. Stride versuchte, es von den Wellen weg zu steuern, aber das war ein hoffnungsloses Unterfangen. Inzwischen war die Gefahr auch sehr viel größer, dass sie ins Wasser fielen.
Und bei alldem hoffte Stride inständig zu ertrinken, falls das Boot tatsächlich kenterte. Falls er nicht ertrank, würde Guppo ihn mit Sicherheit umbringen.
Aber sie kenterten nicht.
Der Seegang war nicht mehr ganz so heftig wie zuvor. Der Regen ließ nach, und Stride sah, dass es über ihnen ein wenig heller wurde. Sie schwankten und tanzten nach wie vor auf den hohen Wellen, aber der Motor konnte sich wieder gegen das Wasser durchsetzen, und das Boot drehte sich nicht mehr im Kreis. Ein paar Sekunden später hörte es ganz auf zu regnen. Die Wolken stoben auseinander und gaben ein Stück blauen Himmel frei. Der Wind legte sich, als hätte das Unwetter ihm alle Energie genommen.
Stride sah das Ufer wieder vor sich auftauchen. Er schaute auf die Uhr und stellte fest, dass nur knapp zwanzig Minuten vergangen waren, seit das Unwetter sie erfasst hatte.
»Es ist vorbei«, sagte er zu Andrea. »Schau nur.«
Andrea hob zögernd den Kopf und sah sich um. Sie betrachtete den friedlichen Himmel und sah sich dann nach dem Unwetter um, das hinter ihnen auf den See hinausgezogen war. Langsam löste sie die Finger von seinem Gürtel und hätte fast wieder das Gleichgewicht verloren, weil ihre Knie unter ihr nachgaben. Stride hielt sie fest.
»Geh doch nach unten«, sagte er. »Leg dich hin und ruh dich aus. Bald sind wir wieder zu Hause.«
Sie lächelte schwach. »Du weißt wirklich, wie man Frauen eine Freude macht, Jon.«
»So was machen wir nicht noch mal«, erwiderte er.
Andrea streckte sich wie eine Katze, um die verspannten Muskeln zu lösen. »Mir tut alles weh.« Dann sah sie ihn an und streichelte ihm die Wange. »Alles klar mit dir?«
»Ja, mir geht’s gut.«
»Du siehst so besorgt aus«, sagte sie.
Er zuckte die Achseln. »Es ist nur der Prozess. Das ist immer so bei mir.«
Andrea wirkte nicht überzeugt. »Hat es was mit mir zu tun?«
Er ließ das Steuer los und nahm ihr Gesicht zwischen die Hände. »Du bist das Beste, was mir seit langem passiert ist.«
Und das entsprach der Wahrheit.
»Ich weiß nicht, Jon. Können zwei Menschen, die so verletzt worden sind, sich wirklich aufeinander einlassen?«
»Wie soll es denn sonst besser werden?«, fragte er.
Andrea nahm seine Hand und sah ihn eindringlich an. »Ich liebe dich, Jon.«
Stride zögerte ein paar Sekunden zu lang. Doch dann antwortete er: »Ich liebe dich auch.«
4
Zurück in Duluth, verbrachte Stride die Nacht bei Andrea, wie er es inzwischen häufig tat. Sie übernachteten nie gemeinsam am Point. Er musste zugeben, dass Andreas Federkernmatratze sehr viel bequemer war als das durchgelegene, zwölf Jahre alte Modell, das er zu Hause hatte, und dass man den Kaffee aus ihrer Kaffeemaschine tatsächlich trinken konnte und nicht kauen musste. Aber manchmal vermisste er sein schlichtes, einfaches Haus, und oft sehnte er sich morgens danach, statt eines flauschigen Teppichs den eiskalten Holzboden unter den Füßen zu spüren. Er vermisste den Anblick und den Geruch des Sees, der von Andreas Schlafzimmerfenster aus nur eine weite Fläche in der Ferne war.
An diesem Abend schlief Stride sofort ein, als Andrea den Kopf an seine Schulter schmiegte. Aber mitten in der Nacht hatte er einen Albtraum. Er träumte, dass sie noch auf dem Boot waren und Andrea sich an ihn klammerte. Doch diesmal gelang es ihm nicht, sie festzuhalten, und sie fiel ins Wasser. Er hörte nur noch ihre Stimme, die nach ihm schrie, bevor der See sie verschlang. Keuchend, mit weit aufgerissenen Augen fuhr er hoch und war erleichtert, Andrea friedlich neben sich schlafen zu sehen. Aber der Traum war so real gewesen, dass er nicht gleich wieder einschlafen konnte.
Stattdessen lag er wach und dachte über den Prozess nach.
Dan strotzte vor Siegesgewissheit, aber Stride hatte im Lauf der Jahre zu oft erlebt, dass Archibald Gale Überraschungen aus dem Hut zauberte. Und irgendetwas nagte immer noch an ihm, gab ihm das Gefühl, dass er etwas übersah, irgendetwas, das ihm alle Bedenken nehmen würde. Er wollte unbedingt, dass Graeme verurteilt wurde. Und wenn es irgendwo noch ein entscheidendes Detail gab, musste er es um jeden Preis finden.
Er kannte dieses Gefühl von früheren Fällen. Er war niemals zufrieden. Aber Maggie rief ihm immer wieder in Erinnerung, dass es
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