Unmoralisch
amerikanische Flagge an ihrem riesigen Fahnenmast im Wind knatterte.
Aber heute war alles anders.
Die Menge drängte sich auf dem Kopfsteinpflaster des Gehsteigs und bis auf die Straße, die bereits von den Kleinlastern der Fernsehsender verstopft war. Kamerateams nahmen ihre Reporter aus allen erdenklichen Perspektiven auf und achteten darauf, auch das fünfstöckige Gerichtsgebäude einzufangen, vor dem es von Schaulustigen, Demonstranten und Reportern nur so wimmelte. Der Verkehr war völlig zum Erliegen gekommen und staute sich über ganze Straßenblocks. Auf den Stufen des Gerichtsgebäudes sah Stride ein paar Polizeibeamte, die mit Mühe versuchten, die Menge daran zu hindern, das Gebäude zu stürmen. Vor dem Eingang drängte sich ein Rudel Reporter und richtete Mikrofone und Kameras auf Dan Erickson, der mit lauter Stimme Fragen beantwortete.
Der Lärm war ohrenbetäubend. Autos hupten, weil die Fahrer langsam ungeduldig wurden, und Stride hörte gleich mehrere laut aufgedrehte Radios und Fernsehgeräte. Ein paar Dutzend Frauen skandierten Sprechchöre und schwenkten Transparente gegen Pornografie. Graeme Stoners Vorliebe für nicht jugendfreie Unterhaltung hatte für einige Schlagzeilen gesorgt, und die Pornografiegegner hatten seine Affäre mit Rachel und die daraus resultierende Gewalttat als Anlass für neue Proteste genommen.
Es herrschte absolutes Chaos. Ein so großes juristisches Ereignis wie den Stoner-Prozess hatte man in Duluth seit Jahren nicht mehr erlebt, und keiner wollte etwas verpassen.
Stride ließ sich wie zufällig von der Menge mitreißen. Immer wieder murmelte er höfliche Entschuldigungen, während er sich durch die Menschenmassen drängte. Wenn er einen Reporter sah, schaute er in die andere Richtung. Er war nur eines von vielen hundert Gesichtern. Die Leute, die ihn kannten, hatten ihn noch nie im Anzug gesehen, also konnte er heute genauso gut als Manager durchgehen, der ins Gericht ging, um einen Strafzettel zu bezahlen. Schließlich gelang es ihm, die Menge hinter sich zu lassen, und er erreichte unbeschadet die Stufen des Gerichtsgebäudes. Dann trat er in die Eingangshalle, stieg die Marmortreppe hinauf, wobei er immer zwei Stufen auf einmal nahm. Um ihn herum liefen ununterbrochen Leute treppauf und treppab. Etwas außer Atem kam er im vierten Stock an und ging durch den Flur zum Gerichtssaal. Er blieb gerade so lange stehen, um noch einen Blick aus dem Fenster auf die wimmelnde Menge unten zu werfen.
Archibald Gale war gerade eingetroffen, und die Reporter stürzten sich geschlossen auf ihn.
Zwei Polizisten bewachten die schwere Eichentür des Gerichtssaals. Als sie Stride erkannten, ließen sie ihn durch. Alle anderen mussten entweder einen Gerichtsausweis vorzeigen oder einen der heiß begehrten Besucherausweise, die per Losverfahren verteilt worden waren. Ein paar Reporter waren ebenfalls im Gerichtssaal zugelassen, allerdings ohne Kameras. Richterin Kassel hatte sich dagegen verwahrt, ihren Gerichtssaal noch mehr zur Zirkusmanege verkommen zu lassen, als es ohnehin schon der Fall war.
Der Gerichtssaal selbst wirkte altmodisch und Ehrfurcht einflößend mit seinen langen Besucherbänken und den dunklen, kunstvoll geschnitzten Holzgeländern. Die Besucherreihen waren bereits gut gefüllt. Stride sah Emily Stoner in der ersten Reihe, gleich hinter dem Platz des Staatsanwalts. Sie blickte so starr zum noch leeren Tisch der Verteidigung hinüber, als säße Graeme bereits dort, und sah verweint und verbittert aus.
Stride setzte sich neben sie. Emily hielt den Blick gesenkt und sagte nichts.
Gleich vor ihm saß Dan Erickson und unterhielt sich im Flüsterton mit seiner Assistenzanwältin, einer hübschen Blondine namens Jodie. Stride ging davon aus, dass die beiden eine Affäre hatten, obwohl Dan das noch nicht offiziell zugegeben hatte. Er beugte sich vor und tippte Dan auf die Schulter. Der Staatsanwalt hielt inne, warf ihm einen Blick zu und reckte dann siegesgewiss den Daumen in die Luft. Stride sah, dass er nervös mit den Fingern auf den Tisch trommelte und unter dem Tisch die Beine kaum ruhig halten konnte. Er war sichtlich aufgedreht.
»Du scheinst ja voll drauf zu sein, Dan«, sagte Stride.
Dan lachte. »Von mir aus kann’s losgehen.«
Dann vertiefte er sich wieder in das Gespräch mit Jodie. Stride sah, wie er mit der rechten Hand die Schulter seiner Assistentin streifte. Dann wanderte die Hand ein wenig tiefer und tätschelte ihr rasch den Oberschenkel.
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