Unmoralisch
sich, nahm seine Brille ab und legte sie sorgfältig auf den Tisch vor dem Platz der Verteidigung. Er schaute auf Graeme Stoner hinunter, lächelte und wandte seine Aufmerksamkeit dann den Geschworenen zu. Während er auf die Geschworenenbank zuging, klopfte er seine Taschen ab, als würde er etwas suchen.
»Wissen Sie, ich hatte gehofft, Sie überraschen zu können, indem ich ein Kaninchen aus dem Hut ziehe. Aber offenbar habe ich meine sämtlichen Zaubertricks im Caesar’s Palace vergessen.«
Die Zuschauer im Gerichtssaal und auch einige Geschworene lachten verhalten. Gales Augen funkelten verschmitzt.
Er strich über sein Ziegenbärtchen und ließ dann den Blick durch den Gerichtssaal wandern. Gale war ein Meister darin, Spannung zu erzeugen. Tatsachen spielten im Grunde keine Rolle. Es ging nur darum, wer den Geschworenen die überzeugendste Geschichte präsentierte. Und Gale, mit seiner Ehrfurcht gebietenden Statur und seinem schauspielerischen Talent, war dafür wie geschaffen.
»Ich war im Laufe der vergangenen Jahrzehnte sehr, sehr oft in diesem Gerichtssaal«, begann er mit sanfter Stimme. »Ein paar wirklich Aufsehen erregende Prozesse haben hier stattgefunden. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass eine Verhandlung jemals so viele Zuschauer angezogen und ein so lebhaftes Interesse erregt hätte wie diese. Was glauben Sie: Woran liegt das wohl?«
Er gab den Geschworenen einen Augenblick Zeit, darüber nachzudenken. »Der Grund ist, dass wir es hier mit einem Krimi zu tun haben. Jeder will wissen, wie die Geschichte ausgeht. Ein junges Mädchen ist verschwunden. Was ist mit ihr geschehen? Hat ihr jemand etwas angetan, oder ist sie einfach nur weggelaufen, wie es jedes Jahr Zehntausende unglückliche Teenager tun? Und falls ihr etwas zugestoßen ist: Was war es? Und warum? Ist tatsächlich ihr Stiefvater dafür verantwortlich, wie die Anklage behauptet? Oder hat eine andere Person aus Rachels Umfeld, die vielleicht wütend oder eifersüchtig auf sie war, die Beherrschung verloren und zur Gewalt gegriffen? Oder hat sogar ein brutaler Serienmörder, der hier in unserer Stadt umgeht, ein weiteres Opfer gefunden?«
Gale wiegte nachdenklich den Kopf.
»Ich würde Ihnen gern versichern, dass Sie, wenn wir hier fertig sind, wissen werden, was mit Rachel geschehen ist. Aber das werden Sie nicht wissen. Wir wissen es ja auch nicht. Graeme Stoner weiß es nicht, und auch Mr Erickson weiß es nicht. Am Ende werden Ihnen nur Fragen und Zweifel bleiben. Aber das ist auch gut so. Vielleicht wollen Sie persönlich ja die Wahrheit wissen, doch Ihre Aufgabe hier im Gerichtssaal ist nicht, sich ein Ende für einen Krimi auszudenken.«
Er legte den Kopf zur Seite. »Mir ist durchaus klar, was Sie jetzt vielleicht denken. Jetzt legt er wieder los, der Magier. Hat der Herr Staatsanwalt Sie nicht genau davor gewarnt? Hat er nicht gesagt, ich würde seine hübschen kleinen Tatsachen verdrehen und versuchen, Sie mit irgendwelchen wilden Fantastereien in die Irre zu führen? Aber nein, ich erwarte gar nicht, dass Sie mich beim Wort nehmen. Der einzige Unterschied zwischen uns ist, dass Mr Erickson Ihnen nur ein paar Tatsachen zeigen wird, während ich sicherstellen möchte, dass Sie auch wirklich alle Tatsachen berücksichtigen. Wenn Sie das tun, werden Sie erkennen, dass Graeme Stoner kein Mörder ist, und Sie werden der Polizei die Botschaft übermitteln, dass man weiter versuchen muss herauszufinden, was mit diesem merkwürdigen, unglücklichen jungen Mädchen tatsächlich geschehen ist.«
Gale beugte sich vor und stützte sich auf das Geländer vor der Geschworenenbank. »Mr Erickson sagt, Sie sollen nur auf die Beweise achten. Da bin ich ganz seiner Ansicht. Ich möchte, dass Sie sich die Beweise ganz genau ansehen, damit Sie merken, was Sie von der Anklage nicht erfahren.
Sie erfahren nicht, ob Graeme an dem Abend, als Rachel verschwunden ist, tatsächlich mit ihr in seinem Van war. Denn dafür gibt es keine Beweise.
Sie erfahren auch nicht, ob der Van der Stoners an dem Abend, als Rachel verschwunden ist, tatsächlich bei der alten Scheune war. Denn dafür gibt es keine Beweise.
Sie erfahren nicht, ob Rachel tatsächlich tot ist. Denn dafür gibt es keine Beweise.
Und schließlich erfahren Sie auch nicht, ob Graeme Stoner tatsächlich mit seiner Stieftochter geschlafen hat. Denn auch dafür gibt es keine Beweise.
Die Anklage erwartet eine große, gedankliche Anstrengung von Ihnen. Sie wird Sie mit unwichtigen
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