Unmoralisch

Verteidigung wird versuchen, Ihnen einzureden, dass Sie aufgrund der Tatsache, dass es keine Leiche gibt, durchaus Grund zu der Annahme haben könnten, Rachel sei noch am Leben.«
    Er schüttelte den Kopf. »Ist das möglich? Nun, theoretisch ist es auch möglich, dass Elvis noch am Leben ist. Aber Sie sind nicht hier, um zu entscheiden, was möglich oder unmöglich ist. Sie sollen aufgrund von Tatsachen entscheiden, die Sie jenseits aller Zweifel überzeugen werden. Also denken Sie daran. Wenn Sie die Indizienbeweise gesehen haben, die wir zusammengetragen haben, wird Ihnen klar sein, dass sie nur den einen Schluss zulassen: Rachel wurde ermordet, und ihre Leiche wurde irgendwo in der endlosen Einöde des nördlichen Minnesota verscharrt. Leider ist es durchaus möglich, dass man sie niemals finden wird. Das ist eine furchtbare, eine tragische Tatsache. Aber dass wir nicht wissen, wo ihr Mörder die Leiche versteckt hat, ändert nichts an der Wahrheit. Rachel ist tot. Davon werden Sie sich bald selbst überzeugen können.
    Wir werden jeden einzelnen ihrer Schritte für Sie nachvollziehen. Wir werden Ihnen eine Videoaufnahme der jungen Frau zeigen, wie sie am Freitagabend nach Hause fährt. Es geht ihr gut. Sie lächelt. Sie hat sich gerade für den nächsten Abend mit einem jungen Mann verabredet. Und doch wird niemand diese junge Frau je wieder sehen. Stattdessen finden wir ein Stück des Pullovers, den sie trug – sie hatte ihn erst ein paar Tage vorher gekauft in einem Waldgebiet ein paar Kilometer nördlich vor der Stadt, getränkt mit ihrem Blut. Dort finden wir auch ein Armband, das ihr lieb und teuer war. Danach wissen wir nichts mehr von Rachel.«
    Erickson warf einen vernichtenden Blick auf Graeme Stoner und wandte sich dann unvermittelt wieder den Geschworenen zu. »Was verbindet diese beiden Tatsachen? Was verbindet die fröhliche, lebendige junge Frau in ihrem Auto und das blutverschmierte Stück Stoff, das kilometerweit entfernt gefunden wurde? Nun, Rachel fuhr an diesem Abend nach Hause zurück, wo Graeme Stoner allein auf sie wartete. Ihre Mutter war auf Reisen. In der Auffahrt des Hauses parkte Graeme Stoners Minivan, fest verschlossen. Und in diesem Minivan finden Sie die Beweise, die die beiden Tatsachen miteinander verknüpfen. Noch mehr Blut von Rachel. Rachels blutigen Fingerabdruck an der Klinge eines Messers. Weitere Fasern des weißen Rollkragenpullovers, den sie trug. Und Graeme Stoners Fingerabdrücke am Messergriff.
    All das werde ich Ihnen im Verlauf der Verhandlung zeigen. Tatsachen. Beweise. Blut und Stofffasern können nicht lügen. Meine Aufgabe ist es, Ihnen diese Tatsachen zu präsentieren, Ihnen zu zeigen, was wir gefunden haben.
    Die Verteidigung allerdings hat eine ganz andere Aufgabe«, fuhr Dan Erickson nach einer Pause fort. »Sie muss entweder erreichen, dass Sie die Tatsachen ignorieren, oder irgendwelche abenteuerlichen und unwahrscheinlichen Erklärungen dafür finden. Unser Mr Gale dort drüben ist ein Entertainer, ein Magier, wie Sie ihn vielleicht aus Las Vegas kennen. Ein Magier ist ein talentierter Mensch. Er kann sein Publikum verzaubern und ihm vorgaukeln, ein schönes Mädchen vor aller Augen schweben zu lassen. Ein richtig guter Magier kann sogar so überzeugend sein, dass seine Zuschauer in Versuchung geraten zu glauben, das Mädchen schwebe tatsächlich in der Luft über der Bühne. Aber Sie und ich, wir wissen, dass es nur ein Trick ist. Eine Illusion.«
    Er suchte den Blick jedes einzelnen Geschworenen, und seine Miene wurde sehr ernst. »Lassen Sie sich nicht zum Narren halten. Lassen Sie sich nicht dazu verleiten, Ihren gesunden Menschenverstand aufzugeben. Mr Gale wird seine Zaubertricks an Ihnen ausprobieren. Ich verlange nur von Ihnen, dass Sie die physischen Beweise in diesem Fall betrachten. Sie werden sehen, dass diese Beweise nur einen einzigen Schluss zulassen: den nämlich, dass in jener schrecklichen Nacht, als Rachel verschwunden ist, Graemes obsessive Beziehung zu seiner Stieftochter die Grenze zu Gewalt und Mord überschritten hat. Wir werden möglicherweise niemals erfahren, was genau aus welchem Grund zwischen den beiden vorgefallen ist. Aber in einer inzestuösen Beziehung liegt an sich bereits so viel Böses, dass sie jederzeit eskalieren kann. Es war an jenem Abend niemand dort, der gesehen hätte, wie es zu der Gewalttat gekommen ist. Aber sie wurde begangen. Die Beweise werden es Ihnen zeigen: Sie wurde begangen.«
    Archibald Gale erhob