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Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Titel: Unpopuläre Betrachtungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bertrand Russell
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gefunden hat. Geschlechtskrankheiten sind nach Ansicht der katholischen Kirche Gottes Strafe für fleischliche Sünden. Zwar kann diese Strafe auf dem Wege über einen schuldigen Gatten auch eine völlig unschuldige Frau und ihre noch unschuldigeren Kinder treffen, aber das Walten der Vorsehung ist nun einmal geheimnisvoll, und ein Zweifel an Gottes Gerechtigkeit wäre Blasphemie. Man darf auch nicht fragen, weshalb es die göttlich verordneten Geschlechtsleiden erst seit der Zeit des Kolumbus gibt. Da venerische Krankheiten gottgewollte Strafen für sündige Leidenschaften sind, gelten alle Maßnahmen zu ihrer Verhütung – ausgenommen ein tugendhafter Lebenswandel! – als Sünde. Auf dem Papier ist das Band der Ehe unlöslich, in Wirklichkeit aber sind viele nur dem Schein nach verheiratet. Und während sich für einflussreiche Katholiken häufig ein Grund zur Annullierung ihrer Ehe findet, gibt es für die Armen und Niedrigen keinen Ausweg, höchstens wenn Impotenz vorliegt. Wer sich scheiden lässt und ein zweites Mal heiratet, macht sich in Gottes Augen des Ehebruchs schuldig.
    In Gottes Augen? Eine verwirrende Formulierung. Was sieht Gott? Alles, sollte man meinen. Offenbar aber ist diese Ansicht irrig. Das Scheidungsparadies Reno zum Beispiel sieht Gott nicht, denn niemand kann in Gottes Augen geschieden werden. Und wie ist es mit den Standesämtern? Nach meinen Feststellungen gehen die ehrenwertesten Leute bei nur standesamtlich getrauten Ehepaaren ohne Hemmungen ein und aus, wohingegen sie um keinen Preis der Welt ein Haus betreten würden, in dem die freie Liebe ihr Unwesen treibt. Standesämter scheint Gott also wahrzunehmen.
    Einige sehr bedeutende Männer fanden selbst die Haltung der katholischen Kirche in sexuellen Fragen noch bedauerlich lax. Tolstoi und Mahatma Gandhi haben uns im Greisenalter versichert, dass jedweder Geschlechtsverkehr verwerflich sei, auch in der Ehe und wenn er vom Wunsch nach Kindern bestimmt ist. Genau so dachten die Manichäer, die sich nur deshalb nicht um ihren Fortbestand zu sorgen schienen, weil sie sich vertrauensvoll auf die Sündhaftigkeit der menschlichen Natur verließen. Natürlich ist die Ansicht der Manichäer ketzerisch. Nicht weniger ketzerisch aber wäre die Behauptung, dass die Ehe genau so lobenswert sei wie das Zölibat. Tolstoi hielt den Tabakgenuss für fast ebenso verworfen wie die Sinnenlust. In einem seiner Romane raucht ein mit Mordgedanken umgehender Mann zunächst einmal eine Zigarette, um sich in die nötige mörderische Raserei hineinzusteigern. Dabei ist nirgendwo in der Bibel das Rauchen verboten worden. Der englische Romancier Samuel Butler meint allerdings, dass der Apostel Paulus das üble Tabakkraut bestimmt verdammt haben würde, wenn er es gekannt hätte.
    Befremdlich finde ich die Haltung von Kirche und Öffentlichkeit dem sogenannten »petting« [1] gegenüber. Wofern es die »Grenze« nicht überschreitet, hat niemand etwas dagegen einzuwenden. Über den genauen Verlauf dieser Grenze aber sind sich selbst die Kasuisten nicht ganz einig; jedenfalls war bisher nicht zu erfahren, an welchem Punkt die Sünde einsetzt. Ein sehr orthodoxer katholischer Priester hat sich einmal dahin geäußert, dass ein Beichtvater, wenn er sich nichts Böses dabei denke, einer Nonne ruhigen Gewissens die Brüste streicheln dürfe. Ich bin allerdings nicht sicher, ob man ihm heute an maßgebender Stelle recht geben würde.
    Unsere moderne Moral ist ein Gemisch aus rein vernunftbedingten Regeln für ein friedliches Zusammenleben der Menschen in einer festen Gemeinschaft und aus traditionellen Verboten, die ursprünglich von irgendeinem alten Aberglauben herrühren und schließlich durch die heiligen Bücher der verschiedenen Religionen – die Bibel der Christen, den Koran der Mohammedaner, die heiligen Schriften der Hindus und der Buddhisten – zu Moralgesetzen erhoben wurden. Bis zu einem gewissen Grade stimmen diese Regeln und Verbote überein. So stützt sich beispielsweise das Verbot von Mord und Diebstahl sowohl auf die menschliche Vernunft wie auf das Wort Gottes. Hingegen wird der Schweine-oder Rindfleischgenuss nur von bestimmten Religionen verurteilt. Unbegreiflich, dass sich moderne Menschen ihre Moral noch immer von uralten und äußerst primitiven Nomaden-oder Bauernstämmen vorschreiben lassen, obwohl ihnen unmöglich verborgen geblieben sein kann, dass die Aufklärungsarbeit der Wissenschaft inzwischen sowohl unser Denken wie die sozialen

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