Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)
Verhältnisse entscheidend gewandelt hat. Umso unbegreiflicher und deprimierender, als viele dieser kritiklos hingenommenen Gebote und Verbote sehr oft völlig unnötiges Leid und Elend verursachen. Gäbe es mehr Güte in der Welt, hätte schon längst jemand auf die eine oder andere Weise zu verstehen gegeben, dass diese heiklen Gebote genau so wenig ernst genommen zu werden brauchen, wie dasjenige: »Verkaufe alles, was du hast, und gib's den Armen.«
Der Begriff Sünde ist voll logischer Widersprüche. Auf der einen Seite lehrt man uns, dass die Sünde im Ungehorsam gegen Gottes Gebote bestehe, auf der anderen Seite spricht man von Gottes Allmacht. Ist Gott wirklich allmächtig, so kann nichts gegen seinen Willen geschehen. Wenn also der Sünder Göttes Gebot missachtet, muss Gott selbst es so gewollt haben – eine Auffassung, zu der sich beispielsweise der heilige Augustinus in kühner Folgerichtigkeit bekennt; seiner Meinung nach fällt der Mensch in Sünde, weil Gott ihn mit Blindheit geschlagen hat. Die meisten modernen Theologen aber empfinden es als unfair, dass der Mensch für Sünden in die Hölle wandern soll, die man ihm letzten Endes gar nicht zur Last legen kann. Denker wie Spinoza folgen aus der für sie selbstverständlichen göttlichen Allmacht, dass es überhaupt keine Sünde geben kann. Eine schreckenerregende Behauptung! Wie? protestierten Spinozas Zeitgenossen empört, Neros Mord an seiner Mutter wäre also keine Sünde? Und dass Adam vom verbotenen Apfel gegessen hat, soll auch nicht Sünde gewesen sein? Demnach gäbe es also überhaupt keinen Unterschied zwischen guten und bösen Taten? Spinoza wand sich unter dem Ansturm dieser Fragen, aber eine befriedigende Antwort hat er nicht gefunden. Denn wenn alles auf Erden mit Gottes Willen geschieht, muss auch der Muttermord des Kaisers Nero Gottes Wille gewesen sein. Und da Gott gut ist, bleibt nur zu folgern, dass dieser Mord ebenfalls etwas Gutes war. Dieser Schlussfolgerung kann man nicht entrinnen.
Wer ernsthaft glaubt, dass Sünde Ungehorsam gegen Gott ist, muss wohl oder übel die These von Gottes Allmacht fallen lassen, wenn er mit der Logik auf gutem Fuß bleiben will. Gewisse liberale Theologen haben sich denn auch von dieser These gelöst, wobei sie allerdings auf neue Schwierigkeiten stießen. Wie soll man wissen, was wirklich Gottes Wille ist? Wenn die Kräfte des Bösen irgendwie an der Macht teilhaben, können sie uns mit Leichtigkeit als Gottes Wort vorspiegeln, was in Wahrheit ihr eigener teuflischer Wunsch und Wille ist. Diese Auffassung vertraten zum Beispiel die Gnostiker, die das Alte Testament als Ausgeburt eines bösen Geistes ansahen.
Sobald wir auf die eigene Vernunft verzichten und uns mit irgendeiner Autorität zufrieden geben, finden wir aus den Schwierigkeiten überhaupt nicht mehr heraus. Auf wen oder auf was sollen wir uns verlassen? Auf das Alte Testament? Auf das Neue Testament? Auf den Koran? Jeder Mensch ist in eine bestimmte Gemeinschaft hineingeboren, und gewöhnlich wählt er sich zur Richtschnur, was diese Gemeinschaft für heilig hält, nie aber die betreffende heilige Schrift als Einheit, sondern immer nur ihm zusagende Abschnitte daraus; der Rest wird ohne weiteres ignoriert. Es hat eine Zeit gegeben, in der keine Bibelstelle so häufig zitiert und so gründlich befolgt wurde wie das Wort: »Die Zauberinnen sollst du nicht leben lassen.« Heutzutage wird diese Stelle nach Möglichkeit mit Stillschweigen übergangen oder allenfalls mit einer Entschuldigung erwähnt. Auch der Heiligen Schrift entnehmen wir also nur, was sich mit unseren vorgefassten Meinungen deckt.
Die meisten religiösen Überzeugungen entspringen einer individuellen oder sich auf eine bestimmte Abkunft stützende Selbstüberheblichkeit. Selbst der Begriff der Sünde entsteht aus einem solchen übersteigerten Selbstgefühl. Der oben erwähnte George Borrow erzählt, wie er eines Tages einen Prediger aus Wales kennenlernte, der so schwermütig war, dass sein Mitgefühl wach wurde. Auf vorsichtiges Befragen gestand ihm der Prediger bekümmert, dass er sich als Siebenjähriger gegen den Heiligen Geist versündigt habe. »Mein lieber Freund«, rief Borrow erleichtert, »das darf Sie nicht beunruhigen! Ich kenne Dutzende von Leuten mit dem gleichen Kummer. Bilden Sie sich ja nicht ein, durch dieses Missgeschick von der übrigen Menschheit abgeschnitten zu sein! Wenn Sie sich nur etwas umtun, werden Sie feststellen, dass viele Menschen unter
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