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Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Titel: Unpopuläre Betrachtungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bertrand Russell
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A habe den guten X vor Trunkenheit torkeln sehen. C erzählt D, X sei in bewusstlosem Zustand im Rinnstein aufgelesen worden. Und D erzählt E, es sei offenes Geheimnis, dass X sich Abend für Abend sinnlos betrinke. Hier spricht allerdings noch ein anderes Motiv mit, nämlich die Bosheit. Wir alle denken von unseren Nachbarn lieber schlecht als gut und glauben darum auch das Schlimmste, ohne viel nach Beweisen zu fragen. Aber auch ohne das Stimulans der Bosheit ist der Mensch jederzeit bereit, dem Erstaunlichen, dem Ausgefallenen oder Wunderbaren blindlings Glauben zu schenken, sofern es nicht zufällig mit irgendeinem seiner Vorurteile kollidiert.
    Bis zum achtzehnten Jahrhundert ist die Geschichte voll von wundersamen Begebenheiten, die von modernen Historikern ignoriert werden, nicht weil sie relativ ungenügend belegt sind, sondern weil der moderne Geschmack der Gebildeten dem wissenschaftlich Wahrscheinlichen den Vorzug gibt. Shakespeare schildert, was sich am Abend vor Cäsars Ermordung zutrug:
     
Ein Sklave, den Ihr wohl von Ansehn kennt,
Hob seine linke Hand empor; sie flammte
Wie zwanzig Fackeln auf einmal, und doch,
Die Glut nicht fühlend, blieb sie unversengt.
Auch kam
— seitdem steckt' ich mein Schwert nicht ein —
Beim Kapitol ein Löwe mir entgegen.
Er funkelte mich an, ging mürrisch weiter
Und tat mir nichts. Auf einen Haufen hatten
Wohl hundert bleiche Weiber sich gedrängt,
Entstellt von Furcht;
Die schwuren, dass sie Männer
Mit feurigen Leibern wandern auf und ab
Die Straße sahn.
     
    Shakespeare hat diese Wunder nicht erfunden; sie sind den Berichten angesehener Historiker entnommen, auf die sich unsere ganze Kenntnis von Cäsar und von den Vorgängen um Cäsar stützt. Wenn ein großer Mann stirbt oder ein gewaltiger Krieg ausbricht, geschehen immer irgendwelche Wunderdinge. Selbst die neueste Zeit macht darin keine Ausnahme, wie die »Engel von Mons« beweisen, die 1914 den englischen Truppen Mut zusprachen. Man hat für solche Begebenheiten fast niemals Belege aus erster Hand, und moderne Historiker lehnen sie rundweg ab – wenn es sich nicht gerade um einen Vorfall von religiöser Bedeutung handelt.
    Jede starke Gemütsbewegung trägt den Keim zu einer Legende in sich. Beschränkt sich die Gemütswallung auf einen Einzelnen, so gilt der Betreffende bei seinen Mitmenschen als mehr oder minder verrückt, wenn er seine selbsterfundenen Geschichten als Tatsachen zum besten gibt. Wird jedoch ein Kollektiv von diesem Gefühl erfasst – beispielsweise in Kriegen -, so denkt niemand daran, die sich ganz natürlich bildenden Legenden richtigzustellen. Im September 1914 glaubten nahezu alle Engländer, dass russische Truppen auf ihrem Wege zur Westfront englisches Gebiet passiert hätten. Kein einziger hatte die Russen mit eigenen Augen gesehen, aber jeder kannte irgend jemanden, der behauptete, sie gesehen zu haben.
    Die Neigung zur Legendenbildung verbindet sich häufig mit Grausamkeit. So werden den Juden seit dem Mittelalter immer wieder Ritualmorde angedichtet, obwohl sich niemals auch nur der Schatten eines Beweises für eine solche Beschuldigung finden ließ, und kein Mensch mit gesundem Verstand jemals wirklich daran geglaubt hat. Und doch gibt es immer wieder Menschen, die solchen Erzählungen Glauben schenken. Ich habe zarentreue Russen getroffen, die von den Bluttaten der Juden felsenfest überzeugt waren – ganz zu schweigen von den Nationalsozialisten, für die es über diese Sache nicht den geringsten Zweifel gab. Solche Legenden bieten einen ausgezeichneten Vorwand für Grausamkeiten, und dass sie ohne weiteres geglaubt werden, beweist, dass der Mensch im Unterbewusstsein nach einem Opfer verlangt, das er verfolgen und peinigen kann.
    Bis zum Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts hielt man die Geisteskranken ganz allgemein für Besessene. Man war der Meinung, dass jedes Schmerzempfinden des gestörten Patienten sich auf den in seinem Körper hausenden Dämon übertrage, und folgerte daraus, dass man den Kranken, um ihn zu heilen, so lange peinigen müsse, bis der böse Geist sich entschließe, ihn zu verlassen.
    Man prügelte also die Irren auf roheste Weise – auch einen König wie Georg III. von England, als er dem Wahnsinn verfiel. Merkwürdig und peinlich ist, dass all die vielen völlig sinnlosen Heilmethoden, an die man in der an Torheiten reichen Geschichte der Medizin geglaubt hat, ausnahmslos mit erhöhten Leiden für die Patienten verbunden waren. Als endlich

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