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Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Titel: Unpopuläre Betrachtungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bertrand Russell
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der russischen Revolution besaßen alle Russen in den Augen der übrigen Welt eine mystische slawische Seele, die sie zwar für ein normales vernünftiges Leben untauglich machte, ihnen dafür aber die Tiefen einer Weisheit erschloss, die praktischer veranlagte Nationen niemals erhoffen durften. Eines Tages aber war alles ganz anders. Plötzlich hatte das russische Volk nichts mehr mit Mystik, Seele und Weisheit, sondern nur noch mit den handgreiflichsten irdischen Zielen zu schaffen.
    Die Welt beurteilt den Charakter einer Nation entweder nach ihren prominenten Repräsentanten – also nach einigen wenigen Einzelpersonen – oder nach der in dieser Nation gerade an der Macht befindlichen Gesellschaftsklasse. Wenn sich also im politischen Status einer Nation etwas ändert, wird sie im selben Moment von den übrigen Völkern entsprechend anders beurteilt. Womit bewiesen wäre, dass jedwede Verallgemeinerung über diesen Gegenstand unsinnig ist.
    Man braucht nicht übermenschlich klug und weise zu sein, um den vielen Irrtümern aus dem Wege zu gehen, die uns auf Schritt und Tritt umlauern. Es gibt einige simple Regeln, mit deren Hilfe man, wenn auch nicht alle, so doch die gröbsten Irrtümer vermeiden kann.
    Handelt es sich um eine Frage, die durch Beobachtung geklärt werden kann, so überlasse man die Beobachtung keinem anderen – man beobachte selbst! Aristoteles hätte sich und der Nachwelt den Irrtum, dass der Mann mehr Zähne besitze als die Frau, ersparen können, wenn er Madame Aristoteles nur ein einziges Mal in den Mund geschaut und sich persönlich von der Unrichtigkeit seiner Behauptung überzeugt hätte. Er hat es nicht getan, weil er auch so Bescheid zu wissen meinte. Wir alle neigen dazu, etwas genau wissen zu wollen, von dem wir in Wirklichkeit keine blasse Ahnung haben. Die Schriftsteller der Antike und des Mittelalters behaupteten, genauestens über Salamander und Einhörner im Bilde zu sein, und obwohl keiner von ihnen jemals ein Einhorn oder einen Salamander zu Gesicht bekommen hatte, fühlten sie nicht die geringste Verpflichtung, ihre dogmatischen Feststellungen durch eigene Anschauung zu erhärten.
    Viele Dinge lassen sich allerdings nicht ganz so einfach überprüfen. Dennoch kann man selbst die leidenschaftlichsten Überzeugungen auf Vorurteile hin untersuchen. Ärgert man sich beispielsweise über eine der eigenen Auffassung entgegengesetzte Meinung, so kann man sicher sein, dass die Gründe für den eigenen Standpunkt nicht die besten sind. Wollte mir jemand weismachen, dass zwei und zwei gleich fünf sei oder dass Island am Äquator liege, so würde ich eher Mitleid als Zorn für ihn empfinden, es sei denn, ich verstünde so herzlich wenig von Arithmetik bzw. von Geographie, dass meine eigene Überzeugung durch eine solche Behauptung ins Wanken geraten könnte. Die wildesten Kontroversen werden gerade um solche Fragen geführt, die keine der streitenden Parteien hieb-und stichfest beantworten kann. Wenn die Theologie ihre Ansichten nicht länger durchzusetzen vermag, schreitet sie zu Verfolgungen – ein Mittel, auf das die Mathematik nicht angewiesen ist; denn in der Mathematik herrscht Wissen, während die Theologie sich nur auf Meinungen stützen kann. Sobald man also Ärger verspürt, wenn eine der eigenen entgegengesetzten Ansicht laut wird, empfiehlt es sich, auf der Hut zu sein. Bei näherer Untersuchung des Falles wird man sehr wahrscheinlich feststellen müssen, dass die persönliche Überzeugung weit über das Beweisbare hinausgeht.
    Ein gutes Mittel, sich gewisser dogmatischer Vorurteile zu entledigen, ist der Versuch, sich in die Auffassungen anderer Gesellschaftsschichten hineinzudenken. Als junger Mensch habe ich viele Reisen unternommen; ich besuchte Frankreich, Deutschland und die Vereinigten Staaten und stellte befriedigt fest, dass meine insularen Vorurteile sich durch dieses Wanderleben allmählich abzuschleifen begannen. Wer keine Reisemöglichkeiten hat, sollte die Zeitung einer Partei lesen, der er ablehnend gegenübersteht, und sich unter Menschen begeben, die in allem anderer Meinung sind. Kommen einem dann die Leute, die in dieser Zeitung schreiben, oder die neuen Bekannten wahnsinnig, pervers oder verworfen vor, so bedenke man, dass die anderen vermutlich von uns selbst den gleichen Eindruck haben. Beide Teile können mit dieser Ansicht recht haben, auf keinen Fall aber können sich beide täuschen. Diese Überlegung sollte zu einer gewissen Vorsicht mahnen.
    Aber

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