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Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Titel: Unpopuläre Betrachtungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bertrand Russell
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nicht immer schlägt Glas Vertrautwerden mit fremden Gewohnheiten zum Segen aus. Als im siebzehnten Jahrhundert die Mandschus China eroberten, mussten alle Chinesinnen – so erforderte es die Sitte – winzig kleine Füße haben und die Mandschus sich ihr Haar zu Zöpfen flechten. Statt dass nun beide ihren lächerlichen Brauch aufgegeben hätten, übernahm jeder Teil auch noch die absurde Sitte des anderen. Also trugen fortan auch die Chinesen Zöpfe, und sie hielten an dieser Gewohnheit fest, bis durch die Revolution im Jahre 1911 die Mandschuherrschaft abgeschüttelt wurde.
    Wer genügend psychologische Phantasie besitzt, male sich eine Diskussion mit einem Partner aus, der irgendein anderes Vorurteil unterhält. Eine solche imaginäre Auseinandersetzung hat der realen Kontroverse gegenüber einen großen Vorteil: den der Unabhängigkeit von Zeit und Raum. Mahatma Gandhi z. B. betrachtete Eisenbahnen, Dampfer und Maschinen als ein Unglück für sein Volk und hätte am liebsten die gesamte industrielle Entwicklung Indiens rückgängig gemacht. Heute dürfte es nur noch ganz wenig Menschen geben, welche die Auffassung des indischen Reformators teilen, da in den westlichen Ländern die Errungenschaften der Technik allgemein als selbstverständlich hingenommen werden. Will man indessen über jeden Zweifel hinaus gewiss sein, dass man die in dieser Hinsicht vorherrschende Meinung zu Recht teilt, wäre es vielleicht ganz klug, sich zu fragen, was Gandhi unter Umständen gegen die eigenen Argumente vorgebracht haben würde.
    Ich persönlich bin durch solche imaginäre Zwiegespräche des öfteren von meinem ursprünglichen Standpunkt abgekommen. Auf jeden Fall sind meine Behauptungen wesentlich zurückhaltender und bescheidener geworden, seit ich erkannt habe, dass es ein Gebot der Klugheit ist, auch dem Gegner Vernunft zuzubilligen.
    Ganz besondere Vorsicht erscheint geboten, wenn die Meinung der anderen deiner Eigenliebe schmeichelt. In neun von zehn Fällen sind Männer wie Frauen von der Überlegenheit des eigenen Geschlechts in tiefster Seele überzeugt. Beide Teile haben imponierende Unterlagen für ihre Behauptung vorzuweisen. Als Mann kann man jederzeit darauf verweisen, dass die meisten Genies der Dichtkunst und der Wissenschaft männlichen Geschlechts sind. Ist man eine Frau, so kann man mit dem Gegenargument aufwarten, dass die meisten verbrecherischen Elemente aus der Männerwelt stammen. Dieses Problem ist grundsätzlich unlösbar und nur unsere Eitelkeit hindert uns an dieser Erkenntnis. Genau so ist es mit der Beurteilung anderer Völker. Jeder von uns hält die eigene Nation für besser, schöner und größer als alle übrigen. Da wir uns jedoch der Einsicht nicht verschließen können, dass jedes Land seine charakteristischen Vorzüge und Fehler hat, verschieben wir ganz einfach die Wertmaßstäbe, und zwar so lange, bis wir feststellen können, dass unsere eigenen nationalen Qualitäten die einzig wichtigen und wünschenswerten sind und unsere Schwächen demgegenüber überhaupt nicht ins Gewicht fallen. Jeder Vernünftige wird zugeben müssen, dass auch diese Frage niemals auf schlüssige Art zu klären ist. Man wird deswegen so schwer mit der menschlichen Überschätzung der Gattung Mensch fertig, weil man diesen Punkt nicht mit einem anderen, nichtmenschlichen Geist diskutieren kann.
    Meines Erachtens wäre das über die ganze Welt verbreitete Laster der Selbstüberheblichkeit nur dann erfolgreich zu bekämpfen, wenn jeder von uns sich immer wieder vor Augen hielte, dass die menschliche Existenz nur eine kurze Episode im Leben eines winzigen Planeten in einem kleinen Winkel des Universums darstellt und dass es in anderen Regionen des Kosmos Lebewesen geben kann, die uns Menschen vielleicht im gleichen Verhältnis überlegen sind wie wir den Quallen.
    Aber nicht immer entspringt Dogmatismus der Selbstüberschätzung. Auch Furcht macht fanatisch; sie ist sogar eine der Hauptursachen für alle Arten von Fanatismus. Bisweilen verfährt sie direkt; so wenn sie schwache Gemüter mit Gespenstergeschichten in Schrecken setzt oder wenn sie in Kriegszeiten Katastrophengerüchte ausstreut. Sehr oft aber operiert sie indirekt, indem sie dem Menschen irgendetwas Tröstliches verheißt etwa ein Lebenselixier oder die ewige Seligkeit für ihn selbst und ewige Höllenpein für seine Feinde. Die Furcht kennt viele Spielarten: Furcht vor dem Tode, vor der Dunkelheit oder vor dem Unbekannten, Herdenangst und jenes

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