Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)
vage, an nichts Bestimmtes gebundene Furchtgefühl, das Menschen zu befallen pflegt, die sich ihre Ängste nicht eingestehen wollen. Wer seine Befürchtungen vor sich selbst verheimlicht und sich nicht entschieden gegen ihre mythenbildende Kraft schützt, wird über viele hochwertige Dinge, namentlich über Dinge der Religion, immer nur falsch und ungerecht urteilen können. Furcht zeugt Aberglauben, und auch die meisten Grausamkeiten sind Produkte der Furcht. In der Überwindung der eigenen Furcht besteht mithin der erste Schritt zur Weisheit. Das gilt sowohl für den Wahrheitssucher wie für den um eine möglichst anständige Lebensführung bemühten Idealisten.
Wir haben zwei Möglichkeiten, der Furcht zu entgehen: entweder müssen wir uns einreden, dass wir gegen jedes Unglück gefeit sind, oder wir müssen den Mut haben, mutig zu sein. Das letztere ist sehr schwierig und an irgendeinem Punkt hört der Mut bei jedem Menschen auf. Deshalb hat man dem ersten Weg von jeher den Vorzug gegeben. Schon die Zaubereien der Primitiven bezweckten nichts anderes als Sicherung der eigenen Person und der eigenen Habe. Verwünschungen, Talismane, Zaubersprüche, Beschwörungen, dies alles diente zur Abwehr eventuellen Unheils. Der Glaube an die Gefahren bannende Kraft dieser Mittel erhielt sich durch sämtliche Jahrhunderte der babylonischen Zivilisation in fast unveränderter Gestalt. Von Babylon aus griff er dann auf das Reich Alexanders des Großen über, und noch später wurde er im Verlauf der Verschmelzung von römischen und hellenischen Kulturelementen von den Römern übernommen, die ihn ihrerseits dem Christentum und dem Islam überlieferten. Heute ist der Glaube an Zauberformeln durch die Wissenschaft etwas gemildert. Aber noch immer sind viele Menschen von der glückbringenden Kraft der Maskottchen überzeugt – fester und tiefer, als sie vor sich selbst und vor anderen wahrhaben wollen – und nach wie vor gilt die von der Kirche inzwischen ausrangierte Hexerei bei den katholischen Massen als eine der vielen Möglichkeiten zur Sünde.
Die an sich grobe Methode, Gefahren und Schrecken durch Zauberei abzuwenden, hatte außerdem noch den Nachteil der geringen Wirksamkeit, denn leider bestand immer die Möglichkeit, dass die bösen Zauberer über die guten triumphieren. Im fünfzehnten, sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert brachte die Furcht vor Hexen und Zauberern Hunderttausende von Frauen und Männern auf den Scheiterhaufen. Allmählich aber kamen andere, insbesondere auf das zukünftige Leben bezogene Glaubensformen auf, die der Furcht auf bessere Weise Herr zu werden trachteten. Nach Plato hat Sokrates am Tage seines Todes die Überzeugung geäußert, dass er nach seinem Heimgang in Gesellschaft der Götter und der abgeschiedenen Helden leben werde, umgeben von gerechten Geistern, die gegen seine endlosen Argumentationen nichts einzuwenden haben würden. Plato selbst vertritt in seinem »Staat« den Standpunkt, dass der Staat beim Volke heitere und erfreuliche Ansichten über das Jenseits erzwingen müsse – nicht etwa aus Wahrheitsgründen, sondern um die Todesbereitschaft der Soldaten auf den Schlachtfeldern zu stärken. Von den traditionellen Mythen über den Hades wollte er nichts wissen, weil sie die Abgeschiedenen als unglücklich darstellen und ein trauriges Bild von ihrem Leben entwerfen.
Die orthodoxe Christenheit hat im Zeitalter des Glaubens sehr bestimmte Regeln für die Erlangung des Seelenheils aufgestellt. Als erstes muss der auf Erlösung Hoffende getauft werden. Alsdann darf er sich keine theologischen Irrtümer irgendwelcher Art zuschulden kommen lassen, und schließlich muss er beim Nahen des Todes alle seine Sünden bereuen und vor dem Sterben Absolution empfangen. Die strenge Befolgung dieser Vorschriften bewahrt den Christenmenschen zwar nicht vor dem Fegefeuer, aber sie garantiert ihm, dass er zum Schluss doch noch in den Himmel kommt. Eine Kenntnis der Theologie ist für den Himmelsaspiranten nicht unbedingt vonnöten. Nach der maßgeblichen Erklärung eines großen Kardinals ist den Forderungen der Orthodoxie vollauf Genüge getan, wenn der Sterbende auf seinem letzten Lager murmelt: »Ich glaube alles, was die Kirche glaubt, und die Kirche glaubt alles, was ich glaube.« Diese sehr genauen Anweisungen hätten es den Katholiken eigentlich leicht machen müssen, den direkten Weg zum Himmel zu finden. Dennoch lastete die Furcht vor der Hölle nach wie vor auf ihnen, und zwar so
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